Zur Kirche in Wittenberge

Ev. Kirche Wittenberge
Ev. Kirche Wittenberge, Foto: © Lukas Verlag

Schon von weitem grüßt der schlanke, 53 m hohe Kirchturm mit seinen roten Ziegeln und seiner grünen Kupferhaube über die Elbaue. Wie ein treuer Wächter thront die große Evangelische Kirche in Wittenberge über der kleinen Altstadt. Diese besteht nur aus zwei Straßenbögen, aus Stein- und Burgstraße, die an den Enden zusammenlaufen, am Steintor und am nicht mehr vorhandenen Elbtor. So bildet die Altstadt zusammen mit den begleitenden Wirtschaftswegen „Hinter den Planken“ einen bootsförmigen Grundriss, in dem der Kirchturm quasi als Schiffsmast steht.
Das ehemals kleine Fischer- und Ackerbürgerstädtchen Wittenberge in der Prignitz besaß bescheidene Vorgängerkirchen: Die Grundmauern des Gotteshauses aus der Zeit der Stadtgründung im 13. Jahrhundert wurden 1997 entdeckt. Bei einem verheerenden Stadtbrand 1652 wurde die Kirche ein Raub der Flammen. Die wieder aufgebaute Kirche brannte 1757 ebenso ab. Schließlich musste der 1771 geweihte schlichte Nachfolgebau ohne Turm auskommen und wurde – inzwischen viel zu klein und baufällig – im Jahr 1870 abgerissen. Die Orgel konnte die Gemeinde nach Vehlgast bei Havelberg verkaufen.
Mit dem industriellen Aufschwung Wittenberges im 19. Jahrhundert wurde auch die Stadt von einer Aufbruchstimmung erfasst: Der Abriss der zu klein gewordenen Gebäude von Schule, Rathaus und Kirche ermöglichte einen großen Bauplatz. Dort wuchs nach der Grundsteinlegung am 24.3.1870 binnen zwei Jahren eine das Stadtbild prägende Kirche empor. Bis zu 1200 Menschen fanden darin Platz. Es ist ein roter Ziegelbau, so wie viele Gebäude in der Stadt aus dieser Zeit. Der weithin sichtbare Kirchturm erfüllte die Wittenberger mit Stolz.

Preußisch pflichtbewusst schufen so der Architekt Ferdinand Wilhelm Horn und die Brüder und Hofbaumeister Ernst und Johann Friedrich Petzold aus Berlin ein frühes und markantes Beispiel nach dem „Eisenacher Regulativ über den evangelischen Kirchenbau“ von 1861. Sie standen in der Tradition der besonders von Karl Friedrich Schinkel und Friedrich August Stüler entwickelten neugotischen Kirchenarchitektur. Mit ihrer stattlichen Größe, repräsentativen Gestaltung und sorgfältigen Ausführung legt die Kirche ein anschauliches Zeugnis ab für die Sakralbaukunst des Historismus in Brandenburg.
Am 28.10.1872 wurde die Kirche feierlich eingeweiht. Die festliche, von 23 großen Fenstern erhellte Halle besteht aus dem von Emporen gesäumten Hauptschiff, einem weiträumigen Querschiff und einem etwas erhöhten polygonalen Chorraum, der sich hinter einem großen Triumphbogen öffnet. Zur gleichen Zeit war eine Orgel von dem Merseburger Orgelbaumeister Chwatal und dessen Sohn eingebaut worden, die bis 1935 ihren Dienst tat.
Über 40 Jahre riefen die alten, aus dem 18.Jahrhundert stammenden drei Wittenberger Glocken die Menschen zum Gottesdienst. Kurz vor Weihnachten 1913 zersprang die große Glocke. Die beiden anderen Glocken wurden ein Opfer des 1.Weltkrieges: Sie mussten der Rüstung zur Verfügung gestellt werden. Die jetzt noch vorhandenen drei Stahlgussglocken konnten dann 1920 geweiht werden.

Kirche in Wittenberge Innenansicht Mehrmals wurde der Kirchenraum renoviert und umgestaltet. 1898 gründete sich ein „Kirchenschmuckverein“. Bei der Renovierung 1901 baute man u.a. die heute noch bestehende Kanzel ein. Entsprechend dem Zeitgeist kamen nach dem 1. Weltkrieg Gedenktafeln mit den Namen der Gefallenen in die Kirche. Besonders schwerwiegend war der Eingriff in die Substanz 1938: Die drei Chorfenster wurden zugemauert und der Altarraum in ein nüchternes Betongewölbe verwandelt – zeichenhaft für die geringe Außenwirkung der Kirche zur Zeit der Nazi-Diktatur. Drei Jahre zuvor  vollendete hier der Orgelbaumeister Martin Pflug aus Wittenberge eine der größten Orgeln in Brandenburg mit 49 Registern, 3 Manualen und elektropneumatischer Steuerung.
Die Pfeifenanordnung im Prospekt erinnert an die Silhouette eines Engels.
Die Orgel kann den Kirchenraum sowohl mit barocken als auch mit romantischen Klangbildern füllen.
1945 trug die Kirche durch Artilleriebeschuss Kriegsschäden an Turm und Chorraum davon. Die Gemeinde konnte die Kirche jedoch im Wesentlichen reparieren und sie ab März 1949 wieder nutzen.

Während der DDR-Zeit war es schwierig, das große Kirchengebäude baulich zu erhalten. Die Gemeinde konnte nur wenige Baumaßnahmen durchführen. Zur 100-Jahrfeier 1972 wurde der Innenanstrich erneuert. Trotz aller Bemühungen konnte aber das Dach nicht dicht gehalten werden, was zu Substanzschäden führte.
Die kirchenfeindliche Politik des Staates DDR erschwerte das Gemeindeleben. Dennoch gab es Gottesdienste, Seelsorge, Unterricht, musikalische Angebote und gemeinschaftliches Zusammenkommen für Menschen aller Generationen. Gut taten die Kontakte zu Partnergemeinden in der Bundesrepublik. In persönlichen Begegnungen und mit materiellen Hilfen unterstützten sie die Gemeinde.

LeuchterNeue Kräfte setzte die friedliche Revolution im Herbst 1989 frei, als die Kirche dem „Neuen Forum“ und der Bevölkerung Raum und Stimme bot. Nach den Friedensgebeten in der Kirche brachen die Menschen mit Kerzen zu dem Panzerdenkmal auf dem Heinrich-Heine-Platz auf.
Die Gemeinde konnte 1991 endlich das Kirchendach neu decken lassen. Wegen des 1998 entdeckten umfangreichen Schwammbefalls der tragenden Holzkonstruktionen stand die Kirche vor der Schließung. Aber mit viel Engagement, z.B. durch die Gründung eines Fördervereins 2001, mit vielfältiger Unterstützung durch Einzelne, durch Partnergemeinden, durch Benefizkonzerte und durch kirchliche und staatliche Förderung wurden die großen Mittel aufgebracht, um von 1999 bis 2011 die Kirche außen und innen vollständig zu sanieren. Dabei konnten auch die 1938 zugemauerten Chorfenster wieder freigelegt, das eingezogene Betongewölbe entfernt und die reizvolle Kassettendecke im Chorraum nach alter Vorlage rekonstruiert werden. Der in Wittenberge gebürtige Glaskünstler Helge Warme gestaltete die Chorfenster lebendig neu. In Anlehnung an die ursprüngliche Farbgestaltung erscheint der Innenraum nun hell und prächtig.
Letzter Mosaikstein bei der Neugestaltung der Kirche war die Sanierung der Pflug-Orgel. Die Orgelbaufirma Schuke-Potsdam stellte 2011/12 das Registerwerk von fast 3000 Pfeifen wieder her und erneuerte die Elektrik komplett. Die Kirche verfügt dank der Holzkonstruktionen über eine hervorragende Akustik, die von Zuhörern und Musikern geschätzt wird. Solisten, Chöre und Orchester musizieren gerne in ihr.
Eine Besonderheit in der Ausstattung sind das „700-Jahre-Kreuz“, der Leuchter und das Relief des Guten Hirten im Chorraum. Der Kyritzer Künstler Heinz Richter gestaltete sie aus mittelalterlichen Eichenbohlen eines Knüppeldammes (etwa aus dem Jahr 1300 stammend), die 1997 unmittelbar neben der Kirche geborgen wurden.

Kontakt:
Evangelisches Pfarramt, Burgstr. 16, 19322 Wittenberge, Tel. 03877 / 9509740, oder
Ev. Gemeindehaus, Perleberger Str. 24, 19322 Wittenberge, Tel. 03877 / 40 36 22