Wort zur Woche
von Vikarin Anita Kern
Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. (Ps 130)
Wer auf das Morgen wartet wie die Wächter, der befindet sich während des Wartens in der Dunkelheit der Nacht. Warten bedeutet, dass etwas oder jemand noch nicht da ist. Warten in der Nacht muss furchtbar anstrengend sein, denn die Nacht hat ihre eigenen Gesetze.
In der Nacht auf jemanden oder etwas zu warten, der oder die noch nicht da ist, das verlangt Ausdauer, das verlangt Beharrlichkeit, verlangt Mut und Zuversicht. Dunkelheit lässt einen kaum etwas sehen und macht einen geradezu kurzsichtig, lässt einen nur Dinge oder Menschen erahnen. Wenn ich mich mit meinem Hund noch im Dunkeln auf den Ackerweg begebe und uns nicht der Mondschein als Leuchte dient, dann erfahre ich dieses Erahnen. Erst sehe ich fast gar nichts, die Nacht scheint wie eine schwarze Wand zu sein, in die ich hineinlaufe.
Mutig muss ich mich in diesen ersten paar Minuten vorwärtsbewegen. Dann gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, es werden zumindest Schattenränder sichtbar. Da ich den Morgen kenne, weiß ich, dass es mehr gibt als diese Schattenränder. So entsteht Sehnsucht. Aus einem Schatten heraus entsteht Sehnsucht nach Mehr, nach einem „Morgen“. Ich sehne mich nach Konturen und vielen bunten Farben, nach Sonnenwärme und Licht. Meine Seele wartet auf den Herrn. Ich will „blau“ und „grün“ unterscheiden können, ich sehne mich nach einer Gerechtigkeit, die nicht alles gleichmachend „schwarz“ erscheinen lässt.
Ich sehne mich nach einer Freiheit, die mir freies Denken erlaubt und mich doch umsorgt. Ich sehne mich nach Menschen, die die Not ihrer Mitmenschen erkennen. Meine Seele wartet auf den Herrn. Es muss nicht bei der Sehnsucht bleiben, denn wir kennen den Morgen.
Einen Kommentar schreiben