Wort zur Woche
von Pfr. Peter Radziwill
Das Bild ist da
Ich betrete eine alte Kirche. Es ist dunkel. Vorne fällt ein Licht durch eine angelehnte Tür. Ich gehe in diese Richtung, öffne die Tür … und betrete eine hell erleuchtete Seitenkapelle.
Eine Restauratorin hat ihr Gerüst vor einer Wand aufgebaut. Als sie mich sieht, unterbricht sie ihre Arbeit und erzählt: „Als ich das erste Mal in diese Kapelle kam, war hier alles vollgestellt mit den Dingen von Jahrzehnten. Es war viel wegzuräumen, damit ich an die Wand kam. Schicht um Schicht habe ich abgetragen.“
Ich schaue: Teile eines Bildes sind zu erkennen: Helles Blau, weiße Wolken, Menschen, die feiern. Ein Bild des Himmels, wie ihn sich die Menschen damals vorstellten. Die kleine Fläche lässt erahnen, wie das Bild als ganzes sein könnte.
„Wenn ich hier unten noch die alten Farbschichten entferne“, sagt die Restauratorin, „könnte das menschliche Leben gemalt sein, von der Geburt bis zum Tod. Hier oben, im Himmel könnte Gott zum Vorschein kommen, der einlädt und mitfeiert. Dazwischen vielleicht Engel, die den Menschen aus dem Grab in den Himmel bringen. Ich werde mich überraschend lassen.“
Ja, denke ich, es ist verhüllt, was einmal sein wird. Meine Erfahrungen sind zudem oft das ganze Gegenteil von Himmel. Sie machen es schwer zu glauben, dass es einen Gott gibt, der für mich den Himmel bereit hält. Aber da sind auch schon die Stellen, wo das Künftige durchscheint.
Noch ist die Restauratorin bei der Arbeit. Aber sie ist sicher: „Einmal werden wir alles sehen. Einmal wird der ganze Raum leuchten, so wie die Teile des Bildes, die jetzt schon zu sehen sind. Vor langer Zeit wurde dieses Bild gemalt, dann übermalt, schließlich vergessen. Aber es war immer da.“
Ja, so ist es auch mit meinem Leben. Der entscheidende Grund meines Lebens, die letzte, die entscheidende Schicht ist da, auch wenn ich sie nicht sehe.
Ich verabschiede mich von der Restauratorin, und gehe meinen Weg wieder hinaus. Es ist der gleiche Weg durch die dunkle Kirche - und doch gehe ich anders. Ich habe das Bild gesehen, nehme es mit, auch wenn für meine Augen nur manche Teile sichtbar waren.
Aber ich weiß jetzt: Wenn auch noch verborgen, das Bild ist da: Helles Blau, weiße Wolken, Menschen darauf, essend, trinkend, feiernd … Und eines Tages, da kann ich das ganze Bild sehen.
Peter Radziwill
Einen Kommentar schreiben