Predigt zur Jahreslosung 2010 gehalten in der St. Jacobi Kirche in Perleberg

von Superintendent Hans-Georg Furian

Gnade sei mit euch uns Friede von Gott unserem Vater und von unserem Herren Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde,

das Bibelwort, unter dem dieses neue Jahr steht, findet sich im 14. Kapitel des Johannesevangeliums, dort im 1 Vers; es lautet:
Jesus Christus spricht: ‚Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich’. Amen

Liebe Gemeinde, erschrecken – dass wir als Menschen uns erschrecken, damit rechnete dieses Bibelwort. Wäre es anders, hätten wir etwas von dem verloren, was uns als Menschen auszeichnet. Natürlich sind es verschiedene Anlässe, die zum Erschrecken führen: eine plötzliche Einlieferung in das Krankenhaus erinnert daran, wie brüchig die Basis ist, auf der wir Leben, wie dünn das Eis ist, das uns alltäglich trägt. Getragen werden wir auch in und durch Beziehungen zu anderen Menschen. Zerbrechen sie, ist das ein Anlass, zu erschrecken, nimmt man doch seine Einsamkeit ungeahnt deutlich in den Blick. Es gibt – vielleicht besonders unter uns Deutschen – auch jene Angst, die sich nicht einem konkreten Gegenstand zuordnen lässt. Darum hat wohl der dänische Philosoph Sören Kierkegaard zwischen zwei Empfindungen unterschieden: zwischen der Furcht, die ein konkretes Gegenüber hat und der Angst, der das fehlt. Möglicherweise können wir uns nur fürchten, weil wir angst haben können. In diesen Bereich der diffusen Ängste gehört auch die, am Beginn eines neuen Jahres gerne bemühte Zukunftsangst. Die Unübersichtlichkeit dessen, was kommt, macht Angst, weil man plötzlich bemerkt, dass man wesentliche Elemente seines Lebens nicht beeinflussen kann. Diese Abhängigkeit macht Angst. Und so lag es dann auch nahe, dass der große evangelische Theologie Schleiermacher um 1820 herum meinte, dass die letzte Abhängigkeit, in der der Mensch sich wiederfindet jene von Gott ist. Ja, er meinte, nur mit diesem Glauben lässt sich damit leben, von so vielem abhängig zu sein, dessen Gutwilligkeit uns unbekannt ist. Das lässt sich nur bestehen, so meinte er, wenn wir glauben, dass wir zuletzt nur von Gott abhängen. Dieses Gefühl der Abhängigkeit war Schleiermacher der christliche Glaube. Christlicher Glaube ist ihm nichts anderes, als das Gefühl der schlechthinnigen, der letzten Abhängigkeit von Gott. Ohne ihn würden uns unsere Ängste lähmen; sie würden uns Bewegungsunfähig machen, steif; ja sie würden uns gleichsam einmauern und gefangen nehmen.

Ich möchte Sie nun auf dieses Bild aufmerksam machen. Es ist die Kopie einer bunten Druckgrafik von Helge Warme. Er nannte sie: sternklar. Sehen wir sie uns an.
sternklar
Ein Fenster -  das Fenster, durch das wir in die Welt blicken. Jeder hat so ein Fenster und bei jedem ist das Glas etwas anders. Darum sehen alle in die gleiche Welt – und erkennen nicht dasselbe. Darum hat jeder sozusagen sein Bild von der Welt.
Das Fenster, durch das wir in die Welt sehen und das uns zugleich vor ihr schützt und einschließt, das wird nun durchbrochen. Die Zacken des Sternes rücken uns auf die Bude – wie man sagt. Der Stern kommt uns mit seinem klaren Licht nahe. Es dringt in das Zimmer ein, in dem wir stehend aus der Distanz die Welt da draußen betrachten.
Wir sehen Kreise. Sie lassen an Jahresringe eines Baumes denken. Vielleicht sind es auch die Wellen des Lichtes und des Schalls, der von den himmlischen Heerscharen und den Hirten ausging in die Welt und durch die Zeiten bis in unsere. Auch sie kommen in unseren Lebensraum, unser Zimmer.
Das kreisförmig sich ausbreitende Licht und der Schall sowie der Stern, all das durchbricht unsere Schutzmauern und rückt uns auf die Pelle.

Weihnachten ist darin nur das Brennglas dessen, wie sich der christliche Glaube versteht: er ist nichts für Zuschauer. Für sie bleibt er ein Wunder, das mit dem sonstigen Leben nichts gemein hat. Ein schöner Schein – aber nichts, dass unser Sein verändern könnte. Nein: der christliche Glaube ist nichts für Zuschauer, er möchte jeden zum Mitspielen einladen. In dem Liebeswerben Gottes in Jesus Christus, in diesem dramatischen Spiel möchte er uns zu Mitspielern machen. Das sind die, die sich nicht lähmen lassen durch ihr Erschrecken, sondern nun erst recht die Fenster zur Welt aufstoßen, anstatt sich noch mehr einzumauern. Die Mitspieler machen andere neugierig, denn sie sind ja auch anders als die meisten. Die Neugier ist nicht nur der Anfang des Denkens; sie ist auch der Beginn des Glaubens. Denn der lebt vom ungläubigen Staunen darüber, dass es überhaupt etwas gibt, und nicht nichts. Ja, vom Staunen darüber, dass alles, was uns umgibt, irgendwie zusammen passt – auch mit uns. Wem das nur ein Zufallsprodukt ist, dem ist wohl nicht zu helfen. Vor wem könnte er noch erschrecken, hat er sich doch an das Schrecklichste schon gewöhnt: das auch er selbst nur zufällig da ist. In diese triste Welt eines solchen Zimmers bricht ein klarer Glanz. Es bricht die Verkrustungen und selbst gebauten Gefängnisse auf. Die Lügen, in die wir uns verstrickt haben, nur um so bleiben zu können, wie wir sind: Menschen, die ohne das Licht des Sternes meinen auskommen zu können. Menschen, die künstliches Licht verwenden und dann meinen, dies wäre der Ersatz; ja Menschen, die schon gar nichts mehr davon ahnen, dass sie sich nur künstliches Licht geben können, aber eben nicht jenes Licht, das uns selbst erst in das rechte Licht rückt.

In dieses rechte Licht geraten wir, wenn wir den Bibeltext weiter lesen. Da geht es nämlich um den Weg, den Jesus geht. Es ist ein Abschied – und zugleich die Eröffnung einer neuen Perspektive: der des ewigen Lebens. Denn Jesus bereitet die Seinen darauf vor, dass er stirbt und nicht mehr leibhaftig bei den Jüngern ist. Er geht ihnen voraus, in die Nähe Gottes, in seine Ewigkeit. Das ist die Perspektive, die er nun den Seinen anbietet. Unsere Räume sind immer nur Teil einer anderen Wirklichkeit: der der Ewigkeit. Von ihr her fällt manchmal ein Licht in unsere Welt: zum Beispiel damals, als die Hirten zu Boten Gottes wurden und seither immer dann, wenn gebeugte Menschen sich aufrichten, wenn sprachlose Menschen wieder ihre Worte finden. Wenn die Gefängnisse des Erschreckens plötzlich Fenster bekommen und wir uns nicht mehr um uns selbst drehen; immer dann hat sich die Ewigkeit ausgewirkt als der Horizont, der allem irdischen Leid und jeder weltlichen Sinnlosigkeit das Versprechen Gottes entgegensetzt: dass er nicht nur einmal, am Anfang da war, sondern alles zur Gemeinschaft mit ihm führen wird. In seiner Perspektive gibt nichts, ohne Sinn. Lassen wir uns vom Licht des Sternes verzaubern und so leben, als wäre es so. Dann wären wir jene Mitspieler Gottes, die die Fenster unserer Mitmenschen für sein Licht öffneten. Das ist eine aussichtsvolle Aufgabe; auch in diesem Jahr. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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