Moment mal
von Pfarrer Wolfgang Nier
Enttäuschte Erwartungen
Erwartungen gehören in unser Lebenskonzept und in unseren Lebensalltag hinein.
Wenn wir etwas Konkretes planen, erwarten wir, dass sich die Dinge so realisieren, wie erwartet. Oder wenn wir wichtige Entscheidungen treffen, die unser Leben berühren, erwarten wir, dass sich die Entscheidungen als richtig erweisen.
Wir haben aber auch Erwartungen an Menschen, an die Eltern, an den Ehepartner, die Kinder, die Enkel. Wir haben Erwartungen an den Staat, dass er uns ein gutes Leben gewährleistet.
Wir haben Erwartungen an die Kirche, wir haben Erwartungen an die Kommune, an die Vereine, an den Bürgermeister, den Pfarrer, den Doktor, die Gemeinderäte und die Kirchenältesten. Wir erwarten etwas vom Leben, wir erwarten manchmal Dinge von uns selbst und wir erwarten viele Dinge von Gott.
Ausgesprochen dicht und vielgestaltig sind die unterschiedlichen Erwartungsmöglichkeiten, die wir tagtäglich in uns tragen.
Dabei haben Erwartungen einen großen Einfluss auf unser Innenleben. Sie beflügeln uns, schaffen in uns positive Gefühle, lassen den Adrenalinspiegel steigen, der uns kreativ macht, vital, uns Ideen einfallen lässt.
Im Gegensatz dazu können uns enttäuschte Erwartungen oder der Zustand eines erwartungslosen Daseins lähmen, uns die Lebenskraft nehmen und es entstehen entweder Depressionen oder Aggressionen.
Jeder Mensch hat dabei seine ganz eigene Form, mit enttäuschten Erwartungen umzugehen.
Wenn wir von Menschen enttäuscht sind, die uns vielleicht große Hoffnungen gegeben haben, wenn wir von Gott enttäuscht sind, weil unser Leben nicht die Spur nimmt, die ich erwartet habe … wie reagieren Sie dann?
Wenn wir von uns selbst enttäuscht sind: wenn Gesundheit und Alter uns Grenzen setzen, wenn uns die Kraft und Energie für so viele Ideen und alltägliche Vorhaben einfach fehlen, was machen wir mit unseren enttäuschten Erwartungen, die wir an uns selbst haben?Und es stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich an den enttäuschten Erwartungen Schuld? Die Dinge, wie sie laufen? Die anderen Menschen? Gott? Oder sind vielleicht meine Erwartungen der Denkfehler?
An der tragischen Figur des Verräters Judas in der Bibel lässt sich diese Frage gut bedenken. Judas Erwartung war: Jesus würde die große Freiheit von den Römern bringen. Mit überwältigender Macht und Gewalt. Er würde endlich dem jüdischen Volk seine Identität als Nation wiedergeben, sein Selbstbestimmungsrecht, sein ungestörtes Leben als Gottesvolk.
Die Wunder, die Jesus tat, seine vollmächtige Lehre von Gott, seine Unerschrockenheit, mit der er jedem Machtanspruch anderer gegenübertrat, seine große Liebe zu den Benachteiligten und Schwachen – all das ließ die Erwartung an ihn hochschnellen … aber:
Wenn Judas genau hingesehen hätte, wenn er genau hingehört hätte, wenn er genauer wahrgenommen hätte, wie Jesus etwas tat, mit welchem Schwerpunkt, was Jesus wirklich predigte und tat … dann hätte er eigentlich schon vorher wissen müssen, dass Jesus seinen Erwartungen nicht entsprechen würde.Wie sieht es also aus mit unseren Erwartungen, die wir an Menschen, an Gott, an uns selbst, an das Leben haben? Was machen enttäuschte Erwartungen mit uns?
Gehen wir dann auch den Weg des Judas, verraten Gott, Menschen, uns selbst? Oder geben wir uns blind der Enttäuschung hin?
Doch das Verharren in der Enttäuschung als Lebensstil ist wie ein Fluch, der den eigenen Alltag, aber auch den Alltag derer, die mit mir leben, dunkel macht, bitter, unfroh, lebens- und gesundheitszerstörend.
Wer kennt nicht solche verbitterten, unfrohen, nörgelnden Zeitgenossen – da steckt oft eine tiefe Lebensenttäuschung dahinter. Wenn sie so nicht sein wollen, dann stellen sie sich einmal den folgenden 3 Fragenkomplexen:
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1. Lasse ich den Menschen, an die ich Erwartungen habe, genug Spielraum für ihre Erwartungen an mich? Wie bereit bin ich, meine Erwartungen zum Gespräch zu stellen und über die Erwartung der anderen nachzudenken?
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2. Wie bereit bin, das Leben positiv zu bejahen, auch wenn sich meine Erwartungen an das Leben nicht immer erfüllen? Bin ich bereit, „Ja“ zum Leben, zu den Menschen sagen, so wie es mir in der Realität das Leben begegnet und nicht nur in meinen Vorstellungen und Träumen? Bin ich bereit anzunehmen, dass sich meine Erwartungen nicht erfüllen und stattdessen ganz andere Lebenskonstellationen als notwendig erweisen?
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3. Entsprechen meine Erwartungen, die ich an Gott für mein Leben habe, dem Plan Gottes für mein Leben? Kenne ich diesen Plan Gottes für mein Leben überhaupt? Suche ich nach den Gedanken Gottes bevor ich meine Erwartungen an ihn richte? Wie stark ist mein Vertrauen in ihn, wenn Gott anders in meinem Leben handelt, als ich es von ihm erwarte?
Sich einmal über die eigenen enttäuschten Erwartungen Gedanken zu machen, ist durchaus sinnvoll. Wenn wir mit offenem, suchenden Blick versuchen, Gott, die Menschen und das Leben wahrzunehmen – ich denke, dann werden wir in der Lage sein, auch mit enttäuschten Erwartungen umzugehen und in anderen Lebenskonstellationen ebenfalls Chancen für ein sinnvolles Leben zu sehen.
Ich möchte ihnen Mut machen, sich auch bei enttäuschten Erwartungen Gott anzuvertrauen und darauf zu vertrauen, dass er einen Plan und Weg für sie hat. Vielleicht sogar einen besseren als den ihren.
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