Moment Mal
von Pfarrer Sacha Sommershof
Liebe Leserinnen und Leser,
„was ist Wahrheit?“ Es ist eine dieser Fragen des meschlichen Zusammenlebens, deren endgültiger Beantwortung wir noch entgegendenken. Sie steht an sehr prominenter Stelle im Johannesevangelium und stammt vom römischen Statthalter Pontius Pilatus, einem in seiner Position fast unendlich mächtig scheinenden Mannes. Er stellt diese Frage im Verhör mit Jesus und sie bleibt am Ende offen. Nicht aber das Verhör, dieses endet in einem populistischen Tribunal.
„Was ist Wahrheit?“ Ist sie das Gegenteil der Lüge? Zweimal am Tag, so kann man es in verschiedenen Studien lesen, lügt jeder Mensch. Das scheint nicht viel zu sein, angesichts dessen, was man am Tag so von sich gibt. Ist Wahrheit vielleicht einfach etwas, mit dem man elegant umgehen muss, so wie es Marcel Proust nachgesagt wird, der auf eine Einladung antwortete: „Kommen unmöglich – Lüge folgt.“ Oder soll man es machen wie eine sehr bekannte Persönlichkeit, die an ihrer besonders auffälligen Haarfarbe und Frisur unverkennbar ist, und nutzt die Wahrheit, um zu sagen: „Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt“?
Es scheint im Moment eine Zeit zu sein, in der sowohl die Definition als auch die Anwendung der Wahrheit in andere Bahnen gerät, als es bisher der Fall war. Die Definition von Wahrheit war immer schon schwierig, von der Aristotelischen Annahme, Wahrheit sei das, was mit der Meinung möglichst vieler Menschen übereinstimme, über die mittelalterliche Sicht, dass Wahrheit immer auch etwas mit Beweis und Akzeptanz zu tun haben muss, bis hin zur Unterscheidung von „relativer“ und „absoluter“ Wahrheit. Dass Fakten zur Wahrheitsfindung beitragen, ist also seit dem Mittelalter im Bewusstsein der Menschen, doch was tut man mit dieser Erkenntnis in einer Zeit des Postfaktischen und der „alternativen Fakten“? Absolute Wahrheiten scheint es nicht mehr zu geben, selbst diese, dass die Erde eine Kugel ist. Jeder würde ihr zustimmen, es sei denn man ist Kreationist, und doch ist auch sie nur relativ, denn naturwissenschaftlich ist die Erde mit ihren durch die Rotation entstandenen Deformationen keine wirkliche Kugel mehr. Also auch auf absolute Wahrheiten ist kein Verlass mehr.
„Was ist Wahrheit?“ Ist sie etwas Überkommenes, etwas Beliebiges oder gar nur eine Traumvorstellung? Vielleicht kommt man der Wahrheit am ehesten auf die Spur, wenn man darauf achtet, was aus ihr entsteht. Eine Wahrheit, an deren Ende der Vorteil weniger zu Lasten Vieler geht, scheint keine wirkliche Wahrheit zu sein. Eine Wahrheit, die von vornherein jegliche Auseinandersetzung mit ihr ausschließt, ist wohl auch nicht das Wahre. Und einer Wahrheit, die nur deshalb wahr einscheint, weil sie den Weg des geringsten Widerstandes geht, ist eine kraftlose.
„Was ist Wahrheit?“ Im Johannesevangelium gibt Jesus eine Antwort darauf: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Auch wenn der Kontext dieses Verses theologisch nicht unproblematisch ist und manch einer sagen wird, dass Religion Wahrheit auch missbraucht habe, ist Jesu Antwort auf die Frage nach der Wahrheit dennoch eine großartige. Wahrheit ist dann wahrhaftig, wenn sie befreit, von der Last des Gewissens, von der Last der Unterdrückung anderer und nicht zuletzt von der Last, Wahrheit schaffen zu müssen – sie wird sich erkennen lassen.
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