Moment Mal
von Pfarrerin Anna Trapp
Knochenbingo
Jedes Jahr aufs Neue, wenn ich gegen Jahresende zurückblicke, dann denke ich: „Dieses Jahr war es besonders schlimm“. Komischer Weise denke ich das seit Jahren und doch weigere ich mich eigentlich zu glauben, dass die Welt, die Menschen schlimmer werden. Ich glaube vielmehr, mich erschlägt die Informationsflut und „bad news are good news“. Die Schlagzeilen werden von den beunruhigenden Dingen beherrscht. Und auch privat, im eigenen Leben gibt es diesen Drang, sich über Negatives auszutauschen. Sie kennen das vielleicht: man sitzt zusammen, nicht nur in der Advents- und Weihnachtszeit, und einer nach der anderen packt seine Beschwerlichkeiten auf den Tisch, die kleinen und großen Wehwehchen: Rücken, Magen, Gelenke. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Doch anstatt wirklich Anteil zu nehmen am Leiden der anderen, versucht man sich mit den Widrigkeiten zu übertrumpfen. „Kenn ich, hab ich auch, aber dazu kommt bei mir…“ Knochenbingo nennen meine Schwester und ich das, es ist in meiner Familie sehr beliebt und schon wir als Nachwuchsgeneration stimmen ordentlich mit ein. So ein vergleichendes Wehklagen gelingt auch zu anderen Themen: Schule, Arbeit, Nachbarn, Politik usw., achten Sie einmal darauf.
Wie schön wäre es stattdessen mal all die wunderbaren Dinge aufzuzählen, die auch geschehen. Die Freundlichkeiten, wie die von dem Freund, der mir meinen Weihnachtsbaum nicht nur besorgte, sondern bis in die Wohnung an seinen Platz trug. Wie der Anruf mit dem ganz ernst gefragten „Wie geht es dir, wirklich?“. Wie die Umarmung, der Händedruck und ein „Schön dich zu sehen.“ Viele Menschen kennen solche Kleinigkeiten, erfahren sie in Ihrem Alltag, kleine schöne Momente. Und die setzen sich oft unbemerkt fort.
Vielleicht haben Sie schon einmal vom sogenannten „Samariter-Effekt“ gehört. Dazu gab es einen einfachen Versuchsaufbau. Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich noch an dieses Phänomen des Telefonhäuschens – die kleinen gelben Zellen. Und Sie kennen sicherlich auch den Drang bei Münzautomaten in die Münzausgabe zu fassen um zu sehen, ob sich vielleicht vergessenes Kleingeld darin befindet. In dem Experiment, wurden nun gezielt Münzen in den Telefonzellen platziert. Wenn eine Testperson die Zelle verließ, stolperte eine Studentin in der Nähe der Zelle und ließ einen großen Stapel Bücher fallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand der aus der Zelle kam, dieser Studentin half, war bei denen, die zuvor eine platzierte Münze gefunden hatten, viermal so hoch im Vergleich zu denen, die nichts gefunden hatten.
Kleine Freuden des Alltags pflanzen sich fort. Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, ja ein Lächeln tragen Frucht – nicht nur bei denen, denen sie zu guten kommt, sondern auch bei den gebenden Menschen selbst. Ja, um uns herum liegt vieles im Argen. Und doch dürfen wir uns freuen und uns daran erinnern, dass Gutes geschieht. Gutes inmitten von Leid und Elend. Dass Menschen Hoffnung spenden, dass Menschen Zeit und Liebe spenden, dass sich gute Wünsche und lächelnde Lippen weitertragen. Es wäre vieles hoffnungsvoller, würden wir nur mehr auf diese kleinen Zeichen achten. Oder, wie es die Dichterin Hannelore Frank gefasst hat: „Vielleicht ist Weihnachten nicht so sehr das Fest der Liebe, sondern das Fest der Hoffnung?“
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