Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Unworte und Unorte
Kennen Sie, liebe Leser und Leserinnen, das Unwort des Jahres? Für das vergangene Jahr ist es ‚Lügenpresse‘, für dieses Jahr steht die Wahl noch aus. Die Wahl eines Unwortes ist eine sprachkritische Aktion, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache durchgeführt wird. Auch ein Unwort des 20.Jahrhunderts wurde gewählt, es heißt ‚Menschenmaterial‘. Es geht bei dieser Aktion darum, Wörter und Formulierungen aus der öffentlichen Sprache zu identifizieren, die „sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen“.
Ich habe einen Vorschlag für das Unwort des Jahres 2015: Plastinat. Ich halte es für eine Augenwischerei, wenn Leichen, die mit Kunststoff vollgepumpt werden, nicht mehr als Leichen bezeichnet werden, sondern als Plastinat. Und ich fasse es als die Menschenwürde möglicherweise verletzend auf, wenn sezierte Leichen derart konserviert und zu Schauzwecken ausgestellt werden. Wenn wir die Legitimität eines solchen Handelns an den ausdrücklichen Willen der sich als Körperspender zur Verfügung Stellenden binden, warum haben wir dann etwas dagegen, daß sich Kannibalen willentlich gegenseitig aufessen? Das behördliche Widerstreben gegen eine solche Ausstellung, das jüngst mit dem Verweis auf die Bestattungspflicht für Leichen begründet worden ist, wurde juristisch unterlaufen mit der Aussage, daß die so behandelten Leichen auf herkömmliche Weise nicht mehr bestattet werden könnten, damit auch nicht dem Geltungsbereich des Bestattungsgesetzes unterliegen würden. Es wurde noch nicht öffentlich gesagt, daß diese Leichen damit gewissermaßen den Status von Sondermüll haben, für den es besondere Entsorgungsverfahren zu entwickeln gilt. Naheliegend ist es, das Wort ‚Plastinat‘ gleich hinter dem Wort ‚Menschenmaterial‘ einzuordnen.
Undenkbar ist ein solcher Umgang mit Verstorbenen aus der Perspektive der Bibel. Jesus selbst spricht im Gleichnis vom Weltgericht von sechs Werken der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu Trinken geben, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden, Kranken beistehen, Gefangene besuchen. Ein siebentes Werk der Barmherzigkeit wurde später vom Kirchenvater Laktanz in Bezug auf das apokryphe Buch Tobit hinzugefügt: Tote zu bestatten. In dieser Siebenzahl haben sich die Werke der Barmherzigkeit als ethische Orientierung im Abendland über einen langen Zeitraum durchgesetzt. Nicht zuletzt ist der Gesetzeskanon in unserem Land auch davon geprägt. Wesentlich dabei ist nicht der Lohngedanke geworden, also aus barmherzigem Handeln die Gnade Gottes zu erlangen, sondern der Gedanke der Identifizierung mit Notleidenden. Für das siebente Werk, also die Toten zu bestatten, wäre eine solche Identifizierung durch den Gedanken der Würde zum Ausdruck gebracht, die man dem verstorbenen Menschen durch einen adäquaten Umgang mit seinem Körper bis hin zu einem angemessenen und pietätvollen Begräbnis zubilligt. Eine andere Richtschnur für das Bestatten von Verstorbenen ist Gottes Verdikt im Zusammenhang mit dem Sündenfall aus der Schöpfungsgeschichte ‚du bist Erde und sollst zu Erde werden‘. In diesem Sinne ist es akzeptabel, wenn Körperspender, die ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt haben, an vielen Universitäten einmal jährlich ein Gedächtnis in einem Gedenkgottesdienst erhalten, darüber hinaus ihre Körper und –teile einer Kremation mit anschließendem Begräbnis zugeführt werden. Dann ist gewährt, daß sie Frieden finden an einem guten Ort, dem Friedhof.
Da nun das Unwort des Jahres gekürt wird, halte ich es ebenso für geboten, den Unort des Jahres zu bestimmen. Beides steht in einem gewissen Zusammenhang, denn auch die Verortung von Würdelosigkeit sollte öffentlich dargestellt werden. Meine erste Wahl fiele auf den Alexanderplatz in Berlins Mitte, den so geliebten und oft besuchten. Seit diesem Jahr kann ich ihn nur mit einem Schauder aufsuchen und sehe zu, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Durch die öffentliche Zurschaustellung von Leichen ist er mir zu einem Unort geworden. Und ich schäme mich gar vor den Touristen aus aller Welt, die dorthin kommen, daß unser Land dabei eine Vorreiterrolle übernimmt. Und ich bedauere die Vielen, die sich die Leichenausstellung ansehen und mit ihrem Eintrittsgeld die Darstellung von Leichen zum lukrativen Geschäft werden lassen. Und ich denke darüber nach, was noch alles an Bezeichnungen mit der Vorsilbe „un-„ einer öffentlichen Debatte würdig wäre.
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