Moment mal
von Superintendent Oliver Günther
Die Zeit lässt uns kaum noch Zeit. Die Zeit rast, und der Mensch hastet der Zeit hinterher. „Es gibt immer was zu tun!“ Das gilt nicht nur für Hobbyhandwerker, sondern offenbar auch für die Politik. Wir erwarten von den gewählten Volksvertretern, dass sie überlegt Initiative ergreifen, planvoll Reformen voranbringen und darüber durchdacht Rechenschaft ablegen. Die Ergebnisse sind: Aktionismus, Planlosigkeit, Schnellschüsse, Pseudolösungen, Fehlentscheidungen, faule Kompromisse. Ein schlechtes Beispiel ist die Pkw-Maut, die fester Bestandteil des Koalitionsvertrages geworden ist. Die EU-Kommission hat längst rechtliche Bedenken angemeldet. Der wirtschaftliche Nutzen wird inzwischen von den Verkehrsministern der Bundesländer in Frage gestellt. Nach Abzug der Systemkosten und der Steuerentlastung für bundesdeutsche Autofahrer bleibt ein Ertrag von gerade einmal 500 Millionen Euro zur Verfügung, um das Verkehrsnetz zu verbessern. Das reicht, um die Rheinbrücke bei Leverkusen auf einer Länge von rund einem Kilometer zu sanieren.
Das Leben hat sich rasant beschleunigt. Helmut Schmidt und Erich Honecker mussten ihre Kommunikation mit Fernschreiber und Festnetztelefon bewältigen. Weitreichende Entschlüsse zur Euro-Rettung werden heute innerhalb von Stunden gefällt. Die Technik macht es möglich. Der gleiche Prozess hätte von einigen Jahrzehnten Monate beansprucht.
Entschleunigung heißt also das Zauberwort der Gegenwart. Denn: Wer schneller lebt, ist auch eher fertig. Es ist nicht verwunderlich, dass die Zahl der Menschen, die sich eine Auszeit nehmen (müssen), wächst. Pilgern, innere Einkehr, Ruhe, Besinnung, Kontemplation, Meditation und das Gebet – das alles gewinnt immer mehr Bedeutung. Der Mensch kehrt zurück zu sich selbst. Dazu geht er aus sich und seinem hektischen Alltag heraus, um sich selbst zu finden und bei sich selbst anzukommen. Unsere Kirchen sind Orte, die der Schnelllebigkeit der Zeit widersprechen und zum Verweilen einladen. Kirchen sind in einer Zeit, die sich dem Diktat des ständigen Wandels zu unterwerfen scheint, ein trotziges Symbol der Beständigkeit. Eine Kirche bietet Raum für Zeit. Und Zeit ist ein kostbares Gut geworden. Zeit ist wie ein Geschenk des Himmels. Gott sei Dank!
Oliver Günther, Superintendent
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