Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Wir sind das Völklein
Wir haben noch den befreienden Ruf der Montagsdemonstranten vor einem Vierteljahrhundert in Leipzig im Ohr: Wir sind das Volk! Aus politischem Kalkül wurde dann recht schnell daraus der Wahlkampfslogan: Wir sind ein Volk! Heute hört man wieder auf Dresdens und Leipzigs Straßen den Ruf ‚Wir sind das Volk‘, freilich in einem anderen Sinn, wohl mit dem gedachten Zusatz ‚… und nicht etwa die Fremden in diesem Land!‘ Ich halte jetzt dagegen: Wir sind das Völklein! Es geht hinsichtlich des Aufbegehrens der Massen tatsächlich mehr um die Frage, wer wir sind, als um die Frage, wer die anderen sind. Das ‚Wir‘ steht auf dem Prüfstand. Dabei können wir gelassen sein. Wir sind wer – im Stolz auf unsere Leistungsfähigkeit, im Zusammenwirken der Völkerfamilie, in der Wahrnehmung der Menschen unserer Zeit, sogar im Zentrum der Hoffnungen ungezählter Menschen. Allerdings ist es mehr der Begriff ‚Deutschland‘ als der Begriff ‚Deutsches Volk‘, der sich mit den Wahrnehmungen der Menschheit verbindet. Und es ist gut so. Die mörderische Trias ‚Ein Volk – ein Reich – ein Führer‘ hat sich als schrecklicher Irrweg erwiesen mit ungeheuren Verbrechen an der Menschlichkeit und an der Menschheit. Das darf es nie wieder geben! Morgen, am Holocaust – Gedenktag werden wir das von Neuem bekräftigen. Was aber hat es mit dem Völklein auf sich? Es ist ein so niedlicher Begriff, der nichts Bedrohliches in sich trägt. Fast so wie die Hobbits in Tolkins Ringsaga. Und wenn ich über das ‚wir‘ nachdenke, so wünsche ich, daß aus seiner inhaltlichen Füllung keinerlei Drohpotential hervorgeht. Wir möchten offen und ehrlich, einladend und freundlich, aber ebenso erkennbar und identifizierbar sein. Und meine erstaunliche Entdeckung ist: wir sind es ja! Jedenfalls wenn ich auf meine Christenschar schaue, zu der ich mit meinem Gottesglauben gehöre. Die meisten Menschen haben Erwartungen an die Christen, an die Gemeinden und an die Kirchen. Es gibt ein geprägten Bild von uns. Wir sind schon ein Völklein mit einem klaren Weltbild, in dem Gott als Schöpfer mit Jesus von Nazareth als Erlöser im Mittelpunkt steht. Mit dieser Orientierung stehen wir nicht in Gefahr, überfremdet zu werden! Nicht durch den Islam oder andere Religionen, nicht durch Gottlosigkeit oder Kommerz, nicht durch rassische oder völkische Wahnideen. Gott die Ehre zu geben und dem Nächsten zu dienen ist Mitte und Ziel unserer Existenz. Aus dieser klaren Orientierung heraus können wir Lieder singen wie das, von dem wortgewaltigen oberdeutschen Dichter der Reformationszeit, Ambrosius Blarer, stammende ‚Wach auf, wach auf, s ist hohe Zeit, Christ sei mit deiner Hilf nicht weit!‘ Die vierte Strophe bringt die Bitte an Christus zum Ausdruck: ‚Darüber auch das Allerbest: daß wir im Glauben stark und fest dich preisen und den Namen dein, dir leben, dein lieb Völklein sein.‘ Ein kleines Völklein, das in einer klaren Bindung und Orientierung steht wird hier vor Augen geführt. Eine Glaubensgemeinschaft, die sich ihrer Wertigkeit bewußt ist, die darum Tod und Teufel nicht fürchten. Schon gar nicht Menschen, die anders sind, als Gäste willkommen geheißen, als Schutzsuchende und Flüchtlinge beherbergt werden. Zur Selbstvergewisserung bedarf es der Straße nicht, sondern der Kirchen. Zur Bestätigung des Glaubens braucht es des ziellosen Rufens nicht, sondern des zielgerichteten Lobpreises. Also: Wir sind dein lieb Völklein, Gott!
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