Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Leben ist mehr als der Tod
Zitternd lehnt die Frau sich auf meinen Arm. Ein Stöhnen entringt sich ihrer Kehle, als der Aluminiumsarg herangetragen wird. Ob sie ihn noch einmal sehen dürfe fragt sie. Die Träger sehen sich kurz an, nicken, öffnen den Deckel, schieben ihn ein Stück zurück. Darin liegt er, noch in der Verrenkung des Todeskampfes. Am Hals die rote Linie, die das Seil hineingedrückt hat. Sie streicht zärtlich mit dem Handrücken über die Wange des Toten. Ihre Tränen netzen sein Gesicht. Dann wird der Sarg geschlossen und fortgetragen. Sie bleibt mit mir zurück. Ob ich ihren Sohn beerdigen werde fragt sie noch. Selbstverständlich und: weinen sie um ihn, Tränen helfen beim Trauern, wir sind ihnen nahe mit unseren Gedanken, keiner von uns konnte ihm helfen.
Tatsächlich hatte er mich zweimal aufgesucht, um mir zu sagen, welche Ängste ihn erfüllen und wie sinnlos er sein Leben empfindet. Ich konnte ihm Zeit widmen, zwei Stunden und mehr, zuhören, nachfragen, Mut zusprechen, von Hoffnung reden.
Ja Hoffnung ist entscheidend. Hoffnung ist nötig auf Besserung gegenwärtiger Lage und momentaner Mutlosigkeit! Das Leben hat zu viele schöne Seiten, als daß es für verzichtbar erklärt werden dürfte. Die Möglichkeiten für jeden Menschen sind ohne Ende, sich eine Perspektive zu eröffnen. Es gibt zu viele Menschen, für die man ganz wichtig ist, als daß man ihnen samt und sonders den Stuhl vor die Tür setzen dürfte, sonst triumphiert das eigene Leid noch über andere. In der eigenen Person steckt immer auch etwas von dem Guten, das über Generationen hin erworben und weitergegeben worden ist. Wir tragen eine Verantwortung für unser Leben, die unser Lebendigsein braucht, nicht unseren Tod. Wir können singen. Wir können lachen. Wir können unsere Gefühle zum Ausdruck bringen. Wir können reden. So groß die Schmerzen bei unserer Geburt waren, so groß ist die Liebe, die uns trägt. Wir haben uns nicht selbst erfunden.
Bei diesem Gedanken stutzte er. Nicht selbst erfunden? Gab es denn einen Gedanken an mich, einen Plan, bevor ich der Mensch wurde, der ich bin? Meine Antwort: Das glaube ich ganz gewiß! Aber, so fuhr er fort, dann wäre ja jemand anderes für mein Dasein verantwortlich! Das dürfen wir annehmen, war meine Antwort. Es gibt im Psalmbuch einen Satz, der mir diesen Gedanken bestätigt: Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen. (Ps 55,23) Das Anliegen meines Lebens, wie ich in der Lage bin oder nicht, es zu gestalten, es zurecht zu bringen. Ganz sicher aber die Dinge unter denen ich leide, meine Schwäche, meine Furcht, meine Hoffnungslosigkeit. Daß er mich versorgen wird setzt mitten hinein etwas, was leuchtet in meiner Dunkelheit. Etwas, woran ich mich halten kann. Und zwar immer wieder und jedesmal, wenn ich das ganz besonders nötig habe.
Nach diesem Gesprächsgang hatte ich den Eindruck, daß er ermutigt losgehen konnte. Einige Zeit schien es vorzuhalten. Dann der neuerliche innere Absturz, die Lebenskrise, die ihn in den Tod trieb.
Mehrmals bin ich in meinem Dienst als Pfarrer schon mit dem selbst herbeigeführten Tod konfrontiert worden. Nie war es leicht. Nie war es zu akzeptieren. Nie fehlte bei den Betroffenen das Gefühl, mitschuldig zu sein, weil man nicht helfen, nicht abwenden konnte. Denn wie das Leben mehr ist als eine mathematische Gleichung, ist auch der Tod mehr als eine Gewinn- oder Verlustrechnung. Jeder Tod ist unwiederbringlicher Verlust und reißt ein Loch in das Netz unserer Beziehungen, das lebensnotwendig ist. Alle am Netzwerk Beteiligten verlieren ein Stück ihres Lebens. Zwar ist die Erfahrung des Sterbens nahestehender Menschen ein Siegel auf unserem Leben, das wir nicht werden brechen können. Aber die Frage nach dem Tod gehört zu den Fragen nach dem Mehrwert unseres Lebens. Und wir kennen sie als die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wer das Leben für sinnlos hält und den Tod für das Sinnvolle, hat die Suche nach dem Sinn des Lebens wohl schon aufgegeben. Genau in dieser Frage aber liegt die Erwartung, mit der wir ‚erfunden’ worden sind. Eine Antwort wird sich nirgendwo anders finden lassen, als im Gegenüber zu dem Schöpfer Gott, der mich wie jeden anderen Menschen in dieses Leben gerufen hat. Ich habe die Dauer meines Lebens über Zeit, eine Antwort zu finden und sie als meine Antwort zu formulieren. Eine von Hoffnung getragene Antwort. Hoffnung, daß da einer ist, der ja zu mir sagt wie er es von Anfang an getan hat.
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