Moment mal
von Superintendent Oliver Günther
Ich bin auf Empfang. Tag für Tag. Und oft genug auch in den Randbezirken des Tages. Ich schlafe vor dem Fernseher ein. Ich wache mit Musik auf. Ich lese die Zeitung beim Frühstück mit unterhaltsamen Moderationen im Radio. Auf dem Weg ins Büro höre ich die Nachrichten und den Wetterbericht. Ich checke meine E-Mails und recherchiere im Internet. Ich telefoniere, bin immer erreichbar, auch per Whats App. Ich höre, was meine Nachbarn so quatschen ... Und werde mit einer unüberschaubar großen Menge an Informationen gefüttert.
Oft höre ich gar nicht mehr hin. Vielleicht, weil ich mich schützen muss. Und weil der Speicher längst voll ist. Übervoll. Mein Hirn will nicht mehr. Das nämlich kann in der Regel gerade so viele Informationen verarbeiten, wie ich ihm bei einer normalen Lesegeschwindigkeit zukommen lasse. Lärmen draußen Kinder und läuft im Hintergrund der Fernseher, ist es eigentlich schon überfordert. Im Durchschnitt verbringen wir täglich über zehn Stunden mit Medien. Medien total. Wir sind eine Mediengesellschaft, in der sich manche Menschen besser in der Lindenstraße auskennen als in ihrer eigenen Familie. Wir leben in einer Informationsgesellschaft, in der vor allem Wissen zählt. Das war schon immer so, sagen Sie? Dass Wissen Macht ist?! Dieses Wissen von heute jedoch, hat eine immer kürzer werdende Halbwertzeit. Was wir heute zu wissen glauben, ist unter Umstände morgen schon Schnee von gestern. Und trotzdem: Wir sind die bestinformierte Gesellschaft aller Zeiten. Menschen im Mittelalter haben im ganzen Leben weniger Informationen bekommen als wir heute an einem einzigen Tag.
Wir können alles wissen. Wir können überall dabei sein. Aber das Koordinatensystem fehlt. Wir haben keine brauchbaren Verständnishilfen mehr. Uns fehlt das übergeordnete Orientierungswissen. Was heißt das? Was bedeutet das? Ist das wichtig für mich? Alles steht irgendwie scheinbar gleichwertig nebeneinander. Es gibt „die“ Wahrheit nicht mehr. Es gibt Milliarden Wahrheiten. Es lebe die Postmoderne; in der aber, weil alles gleich gültig ist, so viele Menschen gleichgültig leben.
Ein unbekannter amerikanischer Autor hat unsere Zeit einmal so beschrieben:
- Wir haben größere Häuser, aber kleinere Familien.
- Mehr Bequemlichkeiten, aber weniger Zeit.
- Mehr Experten, aber größere Probleme.
- Wir haben unseren Besitz vervielfacht, aber unsere Werte reduziert.
- Wir wissen, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, aber nicht mehr, wie man lebt.
- Wir haben dem Leben mehr Jahre hinzugefügt, aber nicht den Jahren mehr Leben.
- Wir kommen zum Mond, aber nicht mehr an die Tür der Nachbarn.
- Wir haben den Weltraum erobert, aber nicht den Raum in uns.
- Wir können Atome spalten, aber nicht unsere Vorurteile.
Komisch: Die bestinformierte Gesellschaft aller Zeiten weiß eigentlich nicht mehr so richtig, was im Leben zählt, worauf es ankommt, worauf man bauen kann. Die bestinformierte Gesellschaft ist dabei, ihre Mitte zu verlieren. Für mich ist der Glaube eine bindende und eine verbindende Kraftquelle. Der Glaube bindet mich an Gottes Möglichkeiten, die viel umfassender sind als meine eigenen. Und er verbindet mich mit Menschen, die mir jetzt vielleicht noch fern stehen, mir aber schon morgen zum Nächsten werden könnten. Auf einen Versucht kommt es an.
Oliver Günther, Superintendent im Ev. Kirchenkreis Prignitz
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