Moment mal
von Pfarrer i.R. Reinhard Worch
Vom Glück, Deutscher zu sein
„Wach auf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen...“ man mag es kaum glauben, dieses Lied steht heute noch in unserem Evangelischen Gesangbuch. Lange haben wir es nicht gesungen. Jetzt können wir es wieder anstimmen, um denen entgegenzutreten, die meinen, mit ihrer rechtsradikalen Ideologie Heimat und Vaterland zu „retten“. Im Aufruf der Neonaziszene zu einem Aufmarsch am 5.4.2014 in Wittenberge werden deren kämpferische Angriffsziele deutlich. So heißt es, dass “dem Volkstod verschriebene Landschaften nicht kampflos“ aufzugeben sind. Alle demokratisch Gesinnten müssen aufwachen, um im friedlichen Protest ihren Willen zum fairen Miteinader aller, zu Toleranz, gegenseitiger Achtung und Solidarität deutlich zu machen. Wenn es außerdem heißt, dass „die Stadt stirbt“, wird der aktive Einsatz vieler engagierter Wittenberger Bürgerinnen und Bürger verunglimpft. Denn in einer sehr schwierigen Umbruchsituation ist es ihnen in vielen Bereichen gelungen, der Stadt ein neues Angesicht zu geben. Gewiss, der Verlust von Arbeitsplätzen und der Weggang vieler Menschen sind bitter. Doch die Stadt wird nicht sterben, weil sich Einwohner, Unternehmen, Vereine, Gewerkschaften und Kirchen für unsere Stadt engagieren. Ihnen braucht niemand die Parole entgegenzuschreien: ‚Werdet aktiv’. Worauf die „nationale Weltanschauung“ hinausläuft, hat Deutschland schon einmal erlitten; und eine wirklich demolierte Stadt haben die Bewohner Wittenberges schon erlebt. Am Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft 1945 waren Hunderte von in den Krieg gezwungenen deutschen Soldaten und zivile Opfer auch aus Wittenberge ermordet. Teile der Stadt lagen in Trümmern. Jeder weiß, alliierte Bomben zerstörten die Häuser. Aber kein russischer Soldat hätte sich von Sibirien bis nach Wittenberge durchgeschlagen, und kein englischer Pilot über unserer Heimat Bomben abgeworfen, wenn der Größenwahn Hitlers sie nicht dazu veranlasst hätte.
Ebenso vergessen die Wittenberger nicht, dass die industrielle Blüte der Stadt mit vielen Arbeitsplätzen und der damit verbundenen rasanten Bevölkerungsentwicklung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eng mit jüdischen Namen verknüpft war. Dem jüdischen Unternehmer Salomon Herz sind nicht nur die bedeutenden Ölwerke zu verdanken. Er machte seinen Einfluss geltend, dass die Bahnstrecke von Berlin nach Hamburg über Wittenberge geleitet wurde. Außerdem gründeten er und seine Söhne soziale Stiftungen, u.a. für mietfreies Wohnen alter und erwerbsunfähiger Handwerker, sowie für ein Waisenhaus.
Ich bin froh und dankbar, dass ich in Deutschland leben kann. Wir können aus der reichen Fülle der Natur schöpfen, haben fruchtbare Felder und weite Wälder. Wir haben das Glück, in einem Land zu sein, um dessen demokratische Verfassung, rechtsstaatliche Verfasstheit, ökonomische Stärke und Lebensqualität uns viele in der Welt beneiden. Selbstverständlich weiß ich, dass keine noch so gute Rechtsordnung Gerechtigkeit, vor allem einen gerechten Ausgleich der Lebensmöglichkeiten zu schaffen vermag. Das bleibt eine ständige Herausforderung. Ihr wollen und müssen wir uns immer stellen. Ein demokratisches Gemeinwesen braucht freie, wachsame und engagierte Bürgerinnen und Bürger, die gemeinsam mit einer unabhängigen Presse die demokratischen Institutionen kontrollieren. Sie müssen darauf achten, dass die rechtsstaatliche, demokratische Ordnung weder von außen noch von innen unterhöhlt wird. Deshalb haben sich angesichts der neonazistischen Aktion in Wittenberge inzwischen viele Bürger und Einrichtungen zusammengeschlossen, um auf verschiedene Weise und mit friedlichen Mitteln den antidemokratischen, rassistischen Anliegen entgegenzutreten. Es geht um nicht weniger als darum, unser Grundgesetz zu verteidigen: Damit „die Würde eines jeden Menschen“ unantastbar bleibt, dass „jeder das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ hat, „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“ und dass sich „das Deutsche Volk“ „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt (Artikel 1 u. 2). Nichts anderes ist für uns Christen auch mit dem Gebot der Nächstenliebe zu vereinbaren. Sie gilt allen Menschen, die mit uns leben, in gleicher Weise, Behinderten und Schwachen, denjenigen, die andere Religionen haben, andere Traditionen pflegen oder einer anderen Nation angehören. So zielt der Liedaufruf: „Wach auf, wach auf, du deutsches Land ...“ darauf, die durch den Glauben an Christus erkannte Liebe im täglichen Miteinader zu verwirklichen.
Wir müssen niemanden mit aggressiven, diskriminierenden Parolen einschüchtern, sondern können jeden mit unseren Gaben, mit dem bunten Reichtum unserer Traditionen, in Kunst und Wissenschaft, mit Musik und Liedern, Gedichten und Tänzen vertraut machen.
Um das zu zeigen, laden die Stadtverordnetenversammlung Wittenberge, das Bündnis für Familie und viele andere Gruppen am 5.April zu einem Bürgerfest in die Bahnstraße und zu einem Lauf für Frieden und Toleranz um das Rathaus ein. Alle demokratisch gesinnten Bürger sind willkommen. Wir könnten auch daran denken, am Abend dieses Tages mit Kerzen eine Menschenkette um das Rathaus zu bilden: Lichter gegen die einbrechende Nacht.
Reinhard Worch
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