Moment mal
von Pfarrer i.R. Reinhard Worch
Wenn Maria und Joseph das gewusst hätten...
... dass sie einmal eines der bekanntesten Paare der Weltgeschichte würden, hätten sie sich eher versteckt, als dass sie nach Bethlehem aufgebrochen wären. Was hat man alles über die missliche Lage der Familie vor und nach der Geburt ihres ersten Kindes seit zwei Jahrtausenden erdacht, aufgeschrieben, gemalt, geschnitzt, nachgespielt. Bibliotheken kann man damit füllen. Doch kaum ein Bild spiegelt die Wirklichkeit ihres Lebens tatsächlich wider. Nur wenige Berichte kommen der Realität des bescheidenen und harten Lebens einer Handwerkerfamilie im ersten Jahrhundert nahe. Der älteste Biograph Jesu, der Evangelist Markus (um 60 n. Chr.), erwähnt die Geburt gar nicht. Die späteren Berichte von Matthäus und Lukas (um 90 n. Chr.) fassen kurz und sachlich die Ereignisse in und um Bethlehem zusammen. Und doch haben sie die Phantasie aller nachfolgenden Generationen so angeregt, dass sich bis heute Traumhaftes und Märchenhaftes, Ernstes und Heiteres, hohe Kunst und viel Kitsch um die Gestalten der Geburtsgeschichte ranken. Das liegt vor allem daran, dass einerseits, die ungeschminkte Realität dargelegt wird, unter der viele Menschen bis heute zurecht kommen müssen: erbarmungslose Herrschaftsansprüche eines Kaisers, brutale Machtsicherung des Königs, unwürdige Lebensbedingungen und Flucht. Andererseits machen die biblischen „Weihnachtgeschichten“ deutlich, dass der Einzelne nicht ohnmächtig den realen politischen und wirtschaftlichen Gewalten ausgeliefert ist. Man darf in unserer Welt mit Kräften rechnen, die einem von außen den Weg weisen. Das haben die Sterndeuter wahrgenommen, als sie, von einem besonderen Stern geleitet, sich auf den Weg nach Bethlehem machten. Wie sie hießen, woher sie kamen und wohin sie gingen, bleibt ein Geheimnis und wird erst in den Legenden von den drei Königen ausgemalt. Als sie dort das Kind mit Maria sahen, veränderte sie das. Eine unglaubliche Freude prägte von da an ihr Leben. Vor allem ließen sie sich nicht von Herodes als Denunzianten missbrauchen. Denn Freude macht eben frei.
Ähnliches erleben die Hirten auf den Feldern von Bethlehem. Der Himmel öffnete sich, und ein außerirdisches Licht durchbrach die tiefe Nacht der Weltgeschichte: „Euch ist heute der Heiland geboren! Christus ist der HERR!“ Niemand sonst hat ein Recht auf euer Leben. Außerdem fordern uns die Scharen der Engel zusammen mit den Hirten auf, mit Leib und Seele, Worten und Taten das erste und eigentliche Weihnachtslied nie verstummen zu lassen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Weil in diesen „Weihnachtsgeschichten“ ein offener Himmel irdische Zwänge beleuchtet, gehören Freude, Friede und Freiheit zur unveräußerlichen Würde eines jeden Menschen. Deshalb wird man nie aufhören, diese Geschichten auszumalen. Jede Gestaltung, ob großartig oder bescheiden, gekonnt oder unbeholfen, beim Choral oder beim Glühwein müht sich darum, unserem normalen Leben Licht und Hoffnung zu schenken.
So packe ich nun in diesem Jahr die bunten Krippenfiguren aus Afrika aus: das Strohlager mit dem Christkind, Maria, Joseph, Tiere, die Hirten und die drei Weisen. Doch da ist noch etwas in dem kleinen Karton. Wer soll noch zum Kind gestellt werden? Der afrikanische Künstler hat die nicht vergessen, die selbst die Evangelisten in ihren Berichten übersehen haben. Es sind die Frauen. Sie bringen, auf ihren Köpfen balancierend, was man am nötigsten braucht: einen Krug mit Wasser, eine Schale mit Früchten, ein Fuder Holz zum Feuern. Auf den Rücken gebunden schauen neugierig und witzig Kinder hervor. Sie bringen Leben ins Haus und tragen uns das Leben zu. So erinnern sie uns daran, was wirklich nötig ist: dass alle einen gedeckten Tisch voll Freude und Hoffnung haben.
Wenn Maria und Joseph das gewusst hätten....
Reinhard Worch
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