Moment mal
von Pfarrer Albrecht D. Preisler
Der Kron-Zeuge
Er sitzt sonst ja nicht in der Kirche. Na gut, zu Weihnachten. Da ist dann aber alles so süßlich - Friede, Freude, Eierkuchen. Die Kirche ist doch eher was für die Dummen, die nicht wissen, wo es langgeht. Gottesdienste sind langweilig.
Und jetzt kann er seinen Blick nicht mehr abwenden. Da vorn am Altar steht die Erntekrone. Das Sonnenlicht scheint genau auf die Krone. Es ist total kitschig. Aber er kann nicht wegsehen. Wofür soll ich dankbar sein, fragt er sich. Für Brot im Tank? Für die miese Apfelernte? Für den Bürgerkrieg in Syrien? Für die ekligen Nacktschnecken im Garten? Für den technologischen Fortschritt in der Landwirtschaft, der immer weniger Menschen Arbeit gibt? Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Es gibt keinen Grund, Gott zu danken.
Die Erntekrone ist aber wirklich schön
Die Orgel spielt. Irgendwelche Kinder machen etwas vor. Er hört nicht hin. Die Krone hält sein Auge immer noch gefangen. Plötzlich fällt ihm das Kissen ein. Seine Mutter hatte es immer auf dem Sofa. Es wurde von ihr in Ehren gehalten. Eine Patentante hatte es ihr zur Konfirmation geschenkt. In verschnörkelten Buchstaben war ein Bibelvers aufgestickt: Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Die Kinder sind fertig. Die Pfarrerin ruft ein paar Namen auf. Es ist die Gruppe, die die Erntekrone gewunden hat. Zum ersten Mal wendet er den Blick von der Krone ab. Und da sieht er es. In den Gesichtern steht nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Es sind Gesichter, die von all dem reden, was auch ihm die ganze Zeit durch den Kopf gegangen ist. Von der großen Anstrengung des Lebens, die zu oft vergeblich ist, von den entgangenen Ernten all der Jahre, von der Sehnsucht nach Frieden. Er kann es an der Krone nun entdecken. Schmerz und Sehnsucht winden sich mit den Halmen nach oben.
Noch einmal nimmt er die Menschen vorne in den Blick. Und er entdeckt noch mehr in ihren Gesichtern. Neben den Sorgen und Ängsten, oder besser: trotz der Sorgen und Ängste lächeln sie. Als wüssten sie noch mehr. Als hätten sie mit der Erntekrone ihre Beschwernisse vor dem Altar abgeladen. Als würden die aufstrebenden Halme ein stummes Gebet vor Gott sein. Als wüssten sie sich in ihrem Leben trotzdem getragen.
Die Pfarrerin findet dafür auch passende Worte, obwohl er sich schon kurze Zeit später nicht mehr an sie erinnern kann.
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