Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Das Scharnier zwischen Abend- und Morgenland
Istanbul - welch eine Welt! Vierzehn Millionen Menschen leben hier - wenigstens! Fast die ganze DDR paßte hier hinein. Wie trägt eine vieltausenjährige Geschichte eine stets im Aufbruch befindliche Gegenwart? Wie schöpft die vielgestaltige Gegenwart aus disparater Vergangenheit? Hagia Sophia und Blaue Moschee - die Bänke auf halbem Wege dazwischen haben keine Lehnen, damit den Gegenwärtigen das Hierhin und Dorthin ermöglicht wird. Die muslimischen Ornamente in der großen Kirche überdecken aufgemalt unzureichend die darunterliegenden christlichen Kreuzesmosaiken. Wie durchdringen sich der eine und der andere Glaube? Klug war der Erlaß Kemal Atatürks, die seit der Eroberung von Byzanz als Moschee genutzte Kirche zum Museum zu erklären. Der säkulare Staat als Schlichter zwischen den Unvereinbarkeiten.
Am Gebet der vieltausend Gläubigen in den Moscheen stört mich nur der Zehn-Zentimeter-Abstand zu den Füßen des Vordermannes, wenn die Stirn sich betend zu Boden neigt. Wie weise, die Waschgelegenheiten im Vorhof oder an den Außenwänden der Moscheen! Furchtbar dagegen die unbeschuhten Touristen mit ungewaschenen Füßen im Besucherbereich. Und die verschleierten Frauen der Strenggläubigen? Nur ein Augenschlitz bleibt frei, zuweilen noch mit Sonnenbrille blockiert. Dennoch ein sandalenbesetzter Fuß unterm Saum hier, eine nagellackverzierte Hand da, ein prüfender Augenblick, nachgezogene Augenbrauen, Wimperntusche, Pudergesicht. Wozu Schminke unterm Schleier? Für schleierbrechende Blicke? Viele Frauen mit weniger Stoff- denn Parfümschleier, atemberaubend! Dem warmen Klima geschuldet. Die Männer an der Nase herumführend.
Und wieviele gibt es von denen! Jedes Lokal ja, jeder Laden hat einen oder mehrere vor der Tür auf der Straße, die Passanten nötigen, hier einzutreten, wortschwallig, gestenreich, voll engagiert. Kaum sitzt man, ist ein Schwarm von Kellnern diensteifrig zur Stelle, alle Wünsche zu erfüllen. Der Gast scheint König zu sein, selbst, wenn der Eindruck bleibt, sie gingen mit einem Hungerlohn nach Hause.
Überall Düfte, Farben, Geräusche, Geschäftigkeit, ein Volk von Händlern. Magere Jungen mit hungrigen Blicken haben drei Packungen Taschentücher im Angebot, um zu leben. Alte mit einer Handvoll bunter Perlenketten für's Handgelenk schleichen von Tisch zu Tisch wie geprügelte Hunde. Wasserflaschen werden aller zehn Meter lautstark feilgeboten. Abenteuerliche Karren und Gefährte fassen die paar Nußhäufchen, Maiskolben, Pflanztöpfe oder Eßkastanienstapel, die den Vorübergehenden schmackhaft gemacht werden. Basare zum Verirren sammeln hunderte Händler unter ihren Dächern, keine Straßenecke ohne Kleinsthändler. Dazu die Schuhputzer, die sich andienen, Straßenfeger, Bettler und zwielichtige Gestalten, die nach Gelegenheiten spähen, Teetrinkende, Shisha-Rauchende und Pachisi-Spieler. Das Leben boomt, auf den Straßen, in den Gassen, auf den Plätzen. Wenn es etwas im Überfluss gibt, sind es Menschen über Menschen. Türkische Gesichter, europäische, afrikanische, asiatische. Eine Grande Nation des Menschseins. Eine Gegenwart. Eine Zukunft. Wie auch immer.
Einen Kommentar schreiben