Moment mal
von Superintendent i.R. Peter Heß
Rücksicht und Barmherzigkeit
Da läuft gerade eine bezeichnende Diskussion in unserem Land. Es ist nichts wirklich Neues. Dennoch ist es ein Weckruf, der gehört werden muß!
Die Stichworte sind: Überforderung und Krankheitsanstieg.
Psychische Erkrankungen, die im Bereich des Bournaut anzusiedeln sind.
Eine Studie wurde extra in Auftrag gegeben. Vielfältige Rahmenbedingungen, vor allem im Arbeitsumfeld, werden als Gefahrenquelle ausgemacht.
Sogar ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden wird im Milliardenbereich errechnet.
Zuviel – zuviel auf einmal, zuviel durchgehende Arbeitszeiten, zuviel Druck!
Zuwenig – zuwenig Unterbrechungen, zuwenig Erholung, zuwenig gegenseitige Hilfen.
Die Leistungsgesellschaft lässt grüßen. Die Wachstumstrunkene Gesellschaft lässt grüßen.
Wo Grenzen nicht mehr erlaubt werden, wo Grenzen disqualifizieren, wo Grenzen überschritten werden, wird es unmenschlich.
Gott sei Dank, dass darüber gesprochen wird, dass nach Auswegen gesucht wird. Gott sei Dank, dass darüber nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen wird
Ursachenerhebung, Schuldsuche – nicht dass da wieder die einfachen Lösungen angeboten werden.
Ich versuche ein wenig und vorsichtig nachzudenken.
Ja, unsere Gesellschaft ist vielschichtiger und auch unübersichtlicher geworden. Ja, der Arbeitsmarkt ist nicht mehr einfach stabil und darum unberechenbarer und unsicherer. Ja, Unternehmen müssen sehen wie sie unter diesen Bedingungen, die auch der Globalisierung geschuldet sind, bestehen und ihrer Verantwortung für viele Mitarbeiter gerecht werden.
Ja, auch Maßlosigkeit mit Blick auf Gewinnmaximierung macht sich schnell breit. Ja, Unsicherheiten auf allen Seiten finden hier verständlicher Weise reichlich Nahrung. Ja, Unsicherheiten und Ängste sind die schlechtesten Berater. Ja, Egoismen haben hier guten Nährboden. Ja, unser aller Standart bindet uns in vielfältige Verbindlichkeiten, die nur allzu leicht gefährdet sind. Diese Arena des Existenzkampfes lässt eigentlich keinen Raum für Barmherzigkeit und Rücksichtnahme: Nur nicht krank werden!
Nur nicht versagen!
Sicher, das ist ein Versuch etwas zu beschreiben. Er ist subjektiv und kann noch umfangreich ergänzt werden.
Die Tatsache, dass wir uns gerade in einer Zeit befinden in der wir uns erinnern, dass Barmherzigkeit und Opfer allein unser Leben lebenswert und menschlich machen, hat mich neu an diese gesellschaftlichen Fragen erinnert.
Das warme Licht von Weihnachten leuchtet sozusagen noch hinter uns:
Gottes Solidarisierung mit unserer problemgeschüttelten Welt und jedem einzelnen Leben. Gottes Zuwendung zu allen die irgendwo an ihre Grenzen stoßen, gescheitert sind, zu zerbrechen drohen oder schon zerbrochen sind.
Gottes Solidarisierung mit den Schwachen, deren Leistungsgrenzen längst erreicht sind. Die Bibel erzählt berührende Geschichten davon wie Jesus sich all solchen Menschen zuwendet. Auch die Todesgrenze ist für ihn keine. Er stellt sich ihr. Kranke, Ausgestoßene, offensichtlich Gescheiterte, Hoffnungslose, Trauernde, Er entdeckt sie, er geht zu ihnen und immer wird etwas gut im Leben dieser Menschen.
Genau das habe ich in über 40 Jahren meiner Arbeit als Pfarrer in vielen Gemeinden mit Kindern, Jungen und Alten, an Krankenbetten, in Altenheimen, mit Eheleuten und Alleinstehenden, mit Arbeitern, Politiker, Unternehmern, Medizinern und Bänkern erlebt. In Kirchen und Wohnstuben, in Amtsstuben und Büros, und nicht zuletzt an den Särgen, überall fängt etwas an, gut zu werden, wo Menschen dem barmherzigen und rücksichtsvollen Gott begegnen.
Der Gott, der sich auch mit unserem Scheitern und unserer Schuld solidarisiert und am Kreuz alle Verurteilungen und Vorurteile auf sich gezogen hat, damit wir befreit mit uns und miteinander leben können, tut uns gut. Damit wir niemanden mehr, uns nicht und keinen anderen, aufgeben müssen, ist er für uns diesen Weg gegangen.
Damit die verhängnisvolle Leistungskurve nicht mehr die Wirklichkeit unseres Lebens regiert und definiert, ist Jesus auch diesen Weg gegangen.
Rücksichtnahme und Barmherzigkeit: Anerkennen, wir sind begrenzt, anerkennen, wir werden und bleiben uns immer wieder viel schuldig, anerkennen, wir müssen nicht immer stark sein, anerkennen, Erwartungsdruck, eigener und fremder, machen krank und zerstören unsere Beziehungen.
Leben ist Gottes Geschenk. Wir müssen uns dies Leben und die Berechtigung nicht erarbeiten. Wir dürfen uns dazu von IHM immer wieder ermutigen und befähigen und befreien lassen. Wir dürfen es uns um Gottes Willen einander gönnen und einander barmherzig und rücksichtvoll dabei helfen.
Wir brauchen IHN und einander.
Welch eine gute Nachricht, die wir verbreiten dürfen!
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