Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Hinterm Horizont geht's weiter
Mein Wohnzimmer, gefällig ausgestattet mit Couch und Sesseln, Bücherregalen und Musikanlage, hat mich endlich wieder. Mein Blick schweift von Bild zu Bild und überfliegt die vielen Buchrücken. Welche reizen mich, sie noch einmal aus dem Regal zu nehmen, um sie zu lesen? Ich weiß, hier bin ich zuhause. Wieviele Quadratmeter braucht es zum Glück?
Die Gedanken eilen hinaus in die Welt. Wie groß muß eine Welt sein, um in ihr glücklich zu leben? Dorf, Städtchen, Großstadt, Ballungsraum, überall sind Menschen zuhause und fühlen sich wohl. Oder sie suchen noch den Platz, an dem sie glücklich leben können.
Ich selbst bin um die halbe Erde gereist in diesem Jahr. In Neuseeland könnte ich ebenso leben, wie hier. Würde mir gleichfalls ein Wohnzimmer einrichten, gefällig ausgestattet.
Ich bemerke, daß ich immer wieder Grenzen brauche, um mich wohlfühlen zu können. Die Begrenztheit meiner Wohnung schafft mir mit den eigenen vier Wänden Sicherheit. My home is my castle.
Der Kanarienvogel kommt mir in den Sinn, der so schön zu singen vermag, am schönsten in seinem eng begrenzten Käfig, in dem er nicht einen Flügelschlag tun kann, ohne ans Gitter zu prallen. Ob er darin glücklich ist?
Wir hatten einen Käfig, als die Mauer noch stand. Wir konnten auf mancherlei Weise hindurch sehen, aber in der Regel nicht hindurch gelangen. Dennoch gab es Glück und Liebe und Vertrauen und Sehnsucht, genauso, wie es Leid und Schmerz und Hoffnungslosigkeit gab, die ganze Palette des Lebens. Die Gruppe Lift sang damals 'Nach Süden, nach Süden wollte ich fliegen, das war mein allerschönster Traum. Hinter dem Hügel wuchsen mir Flügel, um vor dem Winter abzuhaun.'
Unseren Großeltern wurde seinerzeit die Mär vom Volk ohne Raum erzählt. Und sie sind losmarschiert, endlich genügend Raum zu gewinnen, koste es, was es wolle.
Ich merke, wie ich daran zu zweifeln beginne, daß das Glück von räumlicher Begrenztheit oder Weite wesentlich abhängig sei. Als Großfamilien mit drei Generationen und zwölf oder vierzehn Köpfen in Wohnungen mit nur zwei Zimmern leben mußten, gab es dennoch glückliche Momente, um deretwillen zu leben lohnte.
Es könnte ja sein, daß es eher die Kunst ist, über die jeweilige Situation immer wieder hinauszudenken, die glücklich macht. Also über sich selbst hinauszuwachsen und über den eigenen Schatten zu springen. Das Wagnis Leben einzugehen, macht glücklich!
In unseren Kirchen singen wir so manches Lied davon. 'Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich: Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich.' Es ist nicht so sehr die eigene Kraft, die gesetzten Grenzen zu weiten, sondern jeweils gottgegebene Möglichkeit. Wenn wir über den Horizont hinaussehen, die nicht sichtbaren Verhältnisse und Menschen dennoch wahrnehmen und uns mit ihnen verbunden fühlen, dann begreifen wir, wozu uns die Möglichkeit des Weitblicks in die Wiege gelegt ist. Dann werden wir Teil der großen Menschheitswanderung zum Glück, die mit Adam und Eva ihren Lauf genommen hat.
Mein Blick bleibt am CD-Regal hängen. Ich lege eine Scheibe ins CD-Fach der Anlage. Udo Lindenberg singt 'Hinterm Horizont geht's weiter, ein neuer Tag...'
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