Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Einsam bist du klein
Seit einiger Zeit summe ich vor mich hin. Es ist immer dieselbe Melodie. Erst nach vielen Wiederholungen kommt mir in den Sinn, was ich da summe: einen Kanon. Sein Text lautet: Einsam bist du klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein! Ein Gesang, der uns damals Kraft gegeben hat, als es galt, Zivilcourage und Einmütigkeit zu lernen. Und die Erinnerungen an die Zeit der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR wollen in mir aufsteigen.
Warum aber erinnere ich mich eben jetzt an dieses Lied? Hat es mit meiner Gegenwart zu tun, jetzt, da Frau und Kinder fort sind und die Wohnung zu weit wird?
Vielleicht doch eher mit dem Lebensschicksal der jüngst Verstorbenen, die ich zu beerdigen hatte. Sie hat ihr Leben an eine Familie geknüpft, für deren drei Jungen sie als Kindermädchen zuständig war. Dafür hat sie ihre Träume von eigener Familie und dem darauf fußenden Glück in den Hintergrund gestellt. Sie begleitete die Familie auf der Flucht und hat sich zu ihr gehalten, bis die Jungen groß waren und in die Welt hinauszogen.
Eltern kennen die widerstreitenden Gefühle, die mit dem Auszug der Kinder einhergehen - Glück über ihre Reife und Selbständigkeit, Trauer um das nun beendete gemeinsame Leben unter einem Dach, Sorge um die eigene Zukunft. Für manche beginnt eine Zeit, die sie immer vor sich hergeschoben haben, in der sie endlich ihren eigenen Wünschen und Gedanken nachgehen können. Andere wissen nicht, ob sie mit dem Ehepartner ohne die gemeinsame Aufgabe der Kindererziehung gut leben werden können. Für viele jedoch beginnt ein Prozess der Vereinsamung. Manche halten es mit dem Ehepartner allein nicht aus. Manchen erscheint es auf einmal sinnlos, sich Tag für Tag aufzuraffen, um das Notwendige zu tun. Damit einher geht dann bald das Erreichen des Rentenalters, also das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess. Und manche stellen mit Schrecken fest, wieviel Zeit ihres Lebens schon vergangen ist.
Es braucht eine Gegenbewegung gegen die Vereinsamung. Es braucht ein lebendiges Miteinander.
Ein erstes Moment im Leben der genannten Verstorbenen war ihre Arbeit in einer Firma, wo sie eingebunden war in das Kollektiv der dort Beschäftigten. Das wirkte sich auch außerbetrieblich in vielen privaten Feiern und über ihren Eintritt ins Rentenalter hinaus aus.
Ein zweiter Bestandteil der Strategie gegen die Einsamkeit ist die Nachbarschaft. Jeder hat immer Nachbarn. Und die sind manchmal gar nicht so garstig, wie es im Blick durch den Maschendrahtzaun zu sein scheint. Sie haben doch dieselben Bedürfnisse nach Gemeinschaft. Also gilt es, wenn nicht sowieso ein gutes Nachbarschaftsverhältnis existiert, den ersten Schritt zu tun mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Das dritte Element, das die Vereinsamung verhindern kann, ist die Vergesellschaftung eigener Sichtweisen. Ob nun ein Verein, eine Bürgerinitiative oder eine Kirchengemeinde, überall kann ich Gleichgesinnte finden und Teil einer Gemeinschaft werden. Im kirchlichen Blickfeld sogar mit einer Aufgabenstellung, die über meine eigene Person hinausweist: Anwalt des Lebendigen zu sein. Dem lebendigen Gott die Ehre zu geben. In der Gemeinde sind wir darin groß!
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