Moment mal
von Pfarrer i.R. Karl Goebel
Es kommt auf die Perspektive an
Zum ersten Mal in meinem Leben halte ich mich in Wittenberge auf. Ich bleibe knapp 3 Wochen hier. Bei meinem Bemühen, mit möglichst vielen Bürgern in Kontakt zu kommen, wird mir immer wieder die gleiche Frage gestellt: Wie gefällt es Ihnen hier und welchen Eindruck haben Sie von dieser Stadt? Ich muss gestehen, dass ich bei meiner Antwort meine Erschütterung darüber nicht verbergen kann, wie viele Häuser in dieser Stadt leer stehen und in einem wie verfallenem Zustand diese sich befinden. Mir ist daraufhin zwar nie widersprochen worden, aber doch immer hinzugefügt worden: Haben Sie nicht auch die vielen großartig renovierten Gebäude entdeckt? Und wie schöne Fassaden aus der Gründerzeit kann man hier finden!
Der Unterschied ist frappant: Ich sehe die vielen Ruinen, meine Gesprächspartner die vielen sanierten Gebäude. Und beide beziehen wir uns mit unserer unterschiedlichen Beurteilung auf ein und dieselbe Stadt.
So ein Phänomen, eine total unterschiedliche Beurteilung der gleichen Sache, die begegnet einem auch sonst im Leben. Da ist jemand, der klagt über die Verhältnisse, unter denen er leben muss, wie schlecht es ihm geht, mit wie wenig Geld er auskommen muss, wie benachteiligt er also sei. Und daneben steht ein anderer, der allem Augenschein nach unter den gleichen Verhältnissen leben muss und auch nicht viel Geld zur Verfügung hat, - unter Umständen sogar noch weniger - , der aber immer fröhlich lächelt und wenn man ihn nach seinem Ergehen fragt, nur antwortet, wie gut es ihm geht, wie großartig er findet, was man ihm an Geldversorgung zukommen lässt und dass das doch nicht selbstverständlich sei. Man staunt: zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Urteile über ein und dieselbe Situation. Man will zunächst gar nicht glauben, dass das möglich sei. Man nimmt unterschiedliche Lebensverhältnisse an. Aber nein, die Lebensverhältnisse sind identisch. Doch die beiden äußern eine total unterschiedliche Beurteilung ihrer Lebenssituation.
Woran liegt das? Es ist das Phänomen, das wir auch von dem Streit um ein halbgefülltes Glas her kennen: Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Beide Positionen kann man verstehen, für beide spricht etwas. Welche Position ich dabei beziehe, das hängt von der Perspektive ab, aus der heraus ich die Sache beurteile. Wenn ich von dem Genießen der Fülle heraus feststelle, dass der gute Saft schon zur Hälfte weggetrunken ist, dann mag ich mit einem Bedauern äußern, dass das Glas schon halbleer ist. Wenn ich aber aus der Situation der Entbehrung heraus komme und sehe: da gibt es ja noch etwas von dem guten Saft, dann werde ich wahrscheinlich äußern: Da ist ja noch ein halbvolles Glas.
Es kommt eben auf die Perspektive an. Ob ich mehr Schönes oder mehr Trauriges sehe, mehr etwas, das mich glücklich und froh macht, oder mehr etwas, das mich niederdrückt, das hängt weithin von mir ab, von meiner Einstellung zum Leben, von meiner Herangehensweise nach dem Motto: Wie ich in den Wald hineinrufe, so schallt es heraus. Ich muss Augen für das Schöne haben, um das Schöne zu sehen. Bin ich aber nur darauf konzentriert, Fehler und Mängel zu entdecken, dann werde ich auch diese vor allem wahrnehmen.
Für mich, der ich von außen nach Wittenberge gekommen bin, heißt das, in dieser im Grunde wunderschönen Stadt nicht nur die vielen noch ungelösten Probleme wahrzunehmen, sondern auch zu entdecken, wie grün die Stadt ist, wie breit die Straßen sind, wie stark man hier die Interessen der Fahrradfahrer berücksichtigt hat. Wo gibt es sonst so viele Fahrradwege? Und wie gesund ist hier die Luft! Und wie ruhig lebt es sich hier! Und nicht vergessen will ich, wie offen die Menschen mir hier begegnen. Mein Urteil zu dieser Stadt lautet also: Bei aller Problematik, es ist eine menschenfreundliche Stadt, in der ich mich hier aufhalte, inmitten einer sehr menschenfreundlichen Umgebung.
Vielleicht entdeckt auch manch anderer, dessen Herz auf Moll gestimmt ist, wenn er sich auf eine solche zuversichtliche Perspektive einstellt, mehr Positives in seinem Leben, und ist dafür dankbar.
Karl Goebel, Pfr.i.R. , Urlaubsvertreter von Frau Pfarrerin Worch
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