Moment mal
von Kantor Tim Oder
„Wo ist hier Leben?“ mag man denken, wenn man mit dem letzten Glockenschlag um Punkt 18:00 Uhr auf die Straße tritt. Der Ort kommt zur Ruhe, respektive bleibt in dieser. Ruhe brauchen wir. Und doch kommt das pulsierende Leben nie zur Ruhe. Pulsierendes Leben? Hier? Wann und wo?
Spazieren wir an einem lauen Frühlingsabend durch die Stadt oder über das Feld. An einer „ruhigen“ Stelle bleibe man stehen und spitze die Ohren. Erstaunt hören wir einen Nachtigallenruf, so klar, als wäre der Abend nur für sie gemacht.
„Ihr kleinen Vögelein, ihr Waldergötzerlein, ihr süßen Sängerlein“ nennt sie der Dichter Angelus Silesius.
Er folgt ihrem Ruf in den Wald, auch gut, aber nur etwas für Mutige. Denn der Wald steht eben nicht schwarz und schweiget, wie es später Matthias Claudius dichtet. Wer bei Einbruch der Dunkelheit durch den Wald joggen will, hört nicht nur den Uhu rufen. Es knackt und bellt, es raschelt und jault. Sehr leise in der Ferne nur, gewiss, aber dafür umso ergreifender.
Der Volksmund sagt, wer Stille suche, finde sie nur auf dem Friedhof. Und selbst das stimmt nicht.
Es ist zwar die Stille, die einem nachts einen Schauer einjagt, wenn man mit dem Fahrrad doch eigentlich immer nur die Landstraße entlang fahren möchte und unweigerlich an einem Friedhof vorbeikommt. Doch auch diese Stille hat noch etwas Lyrisches. Franz Schubert hat diesem Ort in seinem Liederzyklus „Die Winterreise“ das Lied „Das Wirtshaus“ gewidmet.
Also dann doch lieber in die Stadt.
Aus offenen Dachfenstern klingt Musik. Einige lassen einfach nur ihr Radio in den Abend tönen, andere schicken gezielt neue, handgemachte Musik gegen den Mainstream hinaus, wieder andere scheinen ausgiebig zu feiern. Im Gasthof kündet Tellerklappern und Gelächter von Arbeit und Tagesausklang bis in die Nacht hinein.
Die Nachtigall, die Tiere im Wald, die schwebende Stille und natürlich die Menschen – Sie alle äußern in Musik und Wort: Wir leben hier und jetzt. Ohne pulsierendes Leben wäre es einfach nur still – nicht nur still, sondern totenstill.
Leben entäußert sich. Es klingt. Vom ersten Moment an können wir nicht anders, als uns hörbar zu machen. Gut, mit einem Elektro-Club wäre das flache Land noch „etwas“ lebendiger, aber schauen wir erst einmal auf das, was ist. In Ensembles kommen Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und sozialer Klasse zusammen, um zu musizieren. Sie treffen sich im Spielmannszug, im Posaunenchor, im Volkschor, im Kirchenchor oder im Kammermusikensemble. Sie nehmen sich zwei Stunden Zeit, um gemeinsam zu musizieren. Was sich allein als unüberwindbare Hürde erweist, ist im Ensemble mit Spaß an der Sache getan, oft aber auch – das muss der Ehrlichkeit halber hier gesagt werden – mit viel Arbeit und Mühe. Man spielt und singt nicht für das Publikum oder für „die Sache“, man tut sich selbst etwas Gutes.
Ist Musik also Privatsache?
Keineswegs: Sie belebt. Solange Menschen zusammenkommen um zu singen und zu musizieren, tun sie der Stadt und dem Land etwas unschätzbar Gutes.
Was wäre Lebensqualität, wenn Sie niemand lebt?
Begreifen wir Musik als ein soziales Ereignis.
Ob wir unsere Umwelt mit Alter Musik, Romantik, Popmusik, Hip-Hop oder laut mitgesungenem Trash versorgen, setzt uns in eine Beziehung zu dieser. Sofort erkennen wir, wenn jemand den gleichen Radiosender hört wie man selbst. Am liebsten würde man klingeln. Andererseits sind wir abgewendet, wenn der Nachbargarten zur Musikantenscheune wird. Oder umgekehrt, je nach Geschmack. Man kennt sich nicht und weiß doch alles übereinander (Dieses Credo vom Lande muss überhaupt erst durch die Musik zustande gekommen sein).
Es ist eine Beziehung entstanden, ein Miteinander und ein Gegeneinander.
Dabei haben wir doch gar nichts gemacht, nur in den Abend gelauscht.
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