Moment Mal

von Superintendentin Eva-Maria Menard

Silvio

Am vergangenen Samstag besuchte ich meine altgewordenen Eltern in der ehemaligen Heimat. Wir spazierten ein wenig durch die buckligen Gassen, als zwei Fahrradfahrer uns überholten und herzlich grüßten. Meine Mutter winkte freudig zurück. „Das sind Meiers“ raunte sie mir zu. Ich blickte ratlos. „Die Eltern von Silvio und Ingo“.

Jetzt erinnerte ich mich: Silvio und Ingo waren mit mir in der „Jungen Gemeinde“, der Jugendgruppe innerhalb der Kirche. Ingo war drei Jahre älter als ich und tauchte selten auf. Silvio -  zwei Jahre älter - kam regelmäßig, war langhaarig, braunäugig und ziemlich cool. Ich schwärmte sehr für ihn. Aber auch er hatte eine gleichaltrige Freundin und interessierte sich wenig für die jüngeren Mädchen.

Ein Jahr lang trafen wir uns jeden Freitag in der Jungen Gemeinde, tranken Tee, aßen Schmalzbrote, diskutierten über Gott und die Welt und feierten tolle Partys. Dann trennten sich die Wege. Das nächste Mal, dass ich von Silvio hörte, war im Jahr 1992. Ich war indessen verheiratet, hatte zwei Kinder und lebte östlich von Berlin in Brandenburg.  Beim Frühstück las ich in der Zeitung, dass ein Silvio M. im U-Bahnhof Samariterstraße von Neonazis erstochen worden sei. Ich ahnte sofort, dass es sich um den Silvio, den ich kannte, handelte.

Mir blieb das Frühstücksbrot im Halse stecken, ich war erschüttert und fühlte mich eigentümlich von diesem Tod betroffen. Ich recherchierte ein wenig nach:

Silvio war 1986 nach Berlin gezogen, verdiente dort seinen Lebensunterhalt als Drucker. Als Aktivist der sogenannten „Offenen Arbeit“ der Evangelischen Kirche in der DDR, engagierte er sich in der oppositionellen Umweltbibliothek an der Berliner Zionskirche.  Er beteiligte sich an der Organisation eines illegalen Konzertes von Element of Crime aus West-Berlin am 17. Oktober 1987 in der Zionskirche. Das Konzert ging in die Geschichte ein. Nicht wegen der tollen Musik, sondern weil am Ende rund 30 Neonazis unter den Augen von Volkspolizei und Stasi die Kirche stürmten und auf die Besucher mit Latten und Flaschen einschlugen. Nach der Friedlichen Revolution besetzte Silvio Häuser im Friedrichshain und engagierte sich gegen die Neonazi-Szene. Dieses Engagement hat ihm das Leben gekostet. Er hinterließ eine Lebensgefährtin und seinen einjährigen Sohn.

Im U-Bahnhof gibt es indessen eine Gedenktafel, eine Straße wurde nach ihm benannt, ein Preis für Zivilcourage ausgelobt.

Wieder einige Jahre später wurde ich Pfarrerin an eben dieser Zionskirche. Das Wachhalten der Erinnerung an das Konzert und die Umweltbibliothek prägte meine Arbeit dort und verband mich noch einmal mit dem Leben und Sterben von Silvio.

Ich bete und engagiere mich dafür, dass diese so genannten Baseballschlägerjahre nicht zurückkehren. Ich hoffe, dass wir lernen, unsere Diskurse friedlich und auf Basis unseres Grundgesetzes auszutragen.

Das bin ich Silvio und seinen alten Eltern schuldig.

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Kommentar von Sybille Adt ,Montabaur Westerwald |

Liebe Eva-Maria,
schön, dass du bei deinen Eltern gewesen bist und ihr Meiers getroffen hattet .
Und die vielen Erinnerungen wach wurden
.Erinnerungen sind das einzige Paradies woraus wir nicht vertrieben werden können.
Ich danke dir für diese Geschichte aus deinem Leben.
Ich bin in Gantikow geboren worden1948.
Ich bin dankbar ,dass ich ähnliche Erlebnisse hatte .und Menschen aus meiner Vergangenheit in meinem Gedächtnis oft wach gerufen werden. Gut, dass es sie gab.
Mit herzlichen Grüssen in die Prignitz
Sybille Adt

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