Moment Mal
von Superintendentin Eva-Maria Menard
Reden ist Gold
Wir begegnen uns zufällig im RE 8 nach Berlin und kommen schnell ins Plaudern über die aktuelle Zugverspätung und die komplizierten Bemühungen, das Deutschlandticket zu abonnieren.
Einige Stationen später erzählt sie, dass sie neulich vergeblich versuchte, in alten Kirchbüchern etwas über die Identität ihres Großvater zu erfahren. Ihre Großmutter hätte seinen Namen bis zu ihrem Tod verschwiegen und wie mutig sie das bis heute findet. „Wieso hat sie ihn verschwiegen“, frage ich „und wieso war das mutig? Vielleicht wurde sie unter Druck gesetzt von einem verheirateten Mann?“ „Nein“ - entgegnet sie - „mein Großvater war ein Kriegsgefangener aus Litauen, die Preisgabe seines Namens hätte seinen sofortigen Tod bedeutet. Die Nachbarn sagen bis heute nichts, obwohl sie ihn kennen müssten. So weiß ich gar nicht, was aus ihm geworden ist und ob er den Krieg überlebt hat. Meine Großmutter trug die damalige Schande, ein uneheliches Kind zu bekommen, allein, bis zum Schluss.“ Sie klingt verletzt.
Ich gehe in meinen Gedanken den langen und verschlungenen Weg der Kriegsfolgen nach. Dieser Krieg ist seit genau 78 Jahren zu Ende und doch hinterlässt er Spuren auf den heutigen Seelen. Bis in diese Tage reichen Scham und Schweigen, Identitätsverlust und Fragen.
Wie groß war mein Schrecken, als ich vor wenigen Jahren erfuhr, dass meine innig geliebten Großeltern Mitglieder der NSDAP waren und meine Großmutter mit Stolz das „Eiserne Mutterkreuz“ trug. Und ich erinnere mich, wie mühsam mein Vater versuchte, dieses auch für ihn neue Wissen in sein Weltbild einzuordnen und seine alten Eltern zu entschuldigen. Ob ich gewagt hätte, meine Großeltern, als sie noch lebten, nach ihren Gründen zu fragen? Was hätten sie mir geantwortet?
In vielen Familien wird bis heute über das eigene Erleben und die eigene Rolle im Krieg geschwiegen. Zunächst half das Schweigen sicherlich, die ersten Nachkriegsjahre zu überstehen und sich dem Leben mit all seinen Schwierigkeiten zu stellen. Irgendwann waren Schuld und Schrecken des Krieges tief ins Innere verbannt. Wozu es hervorholen? Und doch: Das Schweigen der Kriegsgeneration prägt Kinder und Kindeskinder. Wunden schwelen weiter. Ich glaube es lohnt, sich von den wenigen noch Lebenden ihre Erfahrungen erzählen zu lassen. Und dass dadurch Verletzungen heilen könnten, Fragen eine Antwort fänden und Versöhnung gelänge.
Ich wünsche meiner Zuggefährtin, dass jemand aus der Nachbarschaft ihr erzählt, wie die Liebe zwischen dem Kriegsgefangenen und der jungen Frau aus dem Dorf begann und wie sie endete.
Montag, der 8. Mai, der Tag der Befreiung, könnte ein guter Tag sein, das Schweigen zu beenden.
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