Moment Mal

von Superintendentin Eva-Maria Menard

Ich sehe was, was Du nicht siehst. Das Spiel geht immer. Es verkürzt meiner Enkeltochter Mia die Wartezeit, wenn der RE 8  sich verspätet oder die Zugfahrt langweilig zu werden droht. Mia darf beginnen, schaut sich um, lässt lange den Blick schweifen, dann ruft sie: „Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist … blau!“

Und plötzlich sehe ich im grau-trüben Winterlicht nicht nur einen tristen Bahnhof, sondern entdecke das tiefe Blau der Bahnsteigschilder (falsch), das hellblaue Stück Himmel, das durch die Wolken lugt (falsch) die blau-verwaschene Hose des jungen Mannes auf dem Bahnsteig (falsch), Mias blau-grün gestreiften Zopfhalter … richtig! So viele Möglichkeiten von Blau, die ich vorher nicht sah! Und nicht nur blau, sondern mit einem Mal entdecke ich viele Farben. Knallig-rote Schrift auf gelben Hinweistafeln, vielfarbiges Braun vom herabgefallenen Laub, rosa Blümchen auf dem Rucksack, sattes Grün Jacke. Ich bin dran und suche mir einen gelben Fleck am Bahnhofsgebäude aus. Mal sehen, wie lange Mia braucht, ihn zu entdecken.

Ich sehe was, was Du nicht siehst. Für mich soll es das Spiel des Jahres werden.

Denn das Bibelwort, welches die Evangelische Kirche über dieses Neue Jahr stellt, lautet: Du bist ein Gott, der mich sieht. So sagt eine, die in der Wüste ihres Lebens sitzt und nicht weiter weiß. Eine Magd, die von ihren Herren geflissentlich übersehen wurde. In dem bedrückenden Wettbewerb der Zurückgesetzten und Unterdrückten hätte sie gute Aussichten auf einen der vorderen Plätze.

Hagar - so heißt sie - verschwendet ihre Kraft nicht mit dem Blick zurück und mit Grübeleien darüber, warum das alles so gekommen ist. Hagar bekommt Gott zu sehen und wird von Gott angesehen. Durch einen Engel wird ihr klar: Auch wenn mich alle übersehen, Gott übersieht mich nicht.

Der Engel, der ihr am Weg in der Wüste begegnet, macht Hagar auf die Kraft aufmerksam, die in ihr ist und die sie durch den Alltag tragen wird. Es geschieht kein Wunder nach der Engelsbegegnung, der Alltag holt Hagar wieder ein, aber sie wird ihn anders sehen und anders leben. Unverwüstlich wird ihre Kraft. Und unverwüstlich ist ihre Hoffnung: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Die meisten von uns leben nicht in Wüsten. Aber auch wir haben unsere Trauer, unseren Schmerz und unsere Niederlagen. Im Jahr 2023 schleichen wir uns in jene alte Hoffnung der Hagar ein. Mit ihr entdecke ich eine ganze Menge leuchtender Farben und Möglichkeiten mitten im Alltag. Das gibt Mut und macht meinen Blick frei für das Neue Jahr: Ich sehe was, was Du (noch) nicht siehst.

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