Moment mal
von Pfarrer Dr. Alexander Heck
Glaube in erschöpfenden Zeiten – Johanniskraut für die Seele?
Das Leiden unserer modernen Gesellschaft hat einen Namen: Burn-out. Mangelnde Anerkennung, Stress am Arbeitsplatz und Frust im Privatleben brennen die Psyche aus. Rund 15 Prozent der Deutschen sind mindestens einmal im Leben über eine längere Zeitspanne mental erschöpft. Eine ganze Ratgeberindustrie entwickelt Tests, das persönliche Burn-out-Risiko auszuloten. Von Johanniskraut bis Antidepressiva reicht der Instrumentenkoffer der pharmazeutischen Industrie, um das Stoffwechselgleichgewicht in den Nervenzellen des Gehirns wiederherzustellen und darüber die körpereigenen Glückshormone zu stimulieren.
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg spricht vom modernen Menschen als dem „erschöpften Selbst“. Seine prekäre Herausforderung besteht darin, ständig seine eigene Individualität beweisen zu müssen: dass er sich in Entscheidungsprozesse engagiert einbringen kann, Initiative zeigt, eigenverantwortlich arbeitet, kreativ Lösungen entwickelt und das eigene Leben insgesamt authentisch zu führen versteht. Derart auf sich selbst zurückgeworfen bleibt dem einzelnen Menschen nichts anderes übrig als permanent aus sich selbst zu schöpfen. Dies führt zwangsläufig zur Erschöpfung. Niemand kann auf Dauer unentwegt Es-selbst-sein-sollen.
Der Glaube kann der erschöpften Seele einen Raum bieten. In den Geschichten des Glaubens, den Melodien der Hoffnung und der Sprache der Liebe ergehen Einladungen, sich selbst einmal von einem anderen Standpunkt aus entwerfen zu lassen als von dem allgemeinen Erlebnis- und Konsumimperativ angestachelt. Die Begegnung mit dem Wort Gottes provoziert auf heilsame Weise dazu, sich seine eigenen Spiel- und Handlungsräume einmal von woandersher eröffnen zu lassen. Der Mensch wird daran erinnert, dass nicht er selbst für das Ganze und das Gelingen im Leben stehen muss, sondern Gott. Wenn ihm Gott genug ist, dann genügt das, wieder Es-selbst-sein-zu-wollen.
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