Moment Mal
von Pfarrer Helmut Kautz
„Vati! Das ist aber ein schöner Baum!“ rief begeistert der Junge aus. Auf ihrem Frühlingsspaziergang waren sie in einer sonst baumlosen Straße auf ihn gestoßen. Er war voller Grün, prächtig gewachsen. Weit reichten seine Äste über den Gartenzaun auf die Straße. Die beiden rochen seinen Duft und hörten den summenden Bienen zu, die fleißig den Nektar sammelten.
„Ja, ja, den hat mein Mann vor 60 Jahren nach der Hochzeit gepflanzt“ tönt es unter dem Baum hervor. Wir bemerken eine schöne alte Frau, die beim Hacken ist. Auf ihre Hacke gestützt erzählt sie uns weiter: „Nichts als Ärger hat er uns gebracht! Alle haben über das Laub im Herbst gestöhnt. Und der Nachbar, der hat immer das Laub zusammengefegt und des Nachts in unseren Vorgarten gekippt! Er hat uns nie vergeben! Wie kann es solche Menschen geben, keinen Sinn für Schönheit! Aber wir haben nicht nachgegeben! Und so lange ich lebe, bleibt der stehen!“ Sie hackt weiter.
Der Sohn fragt: „Vati, was ist vergeben?“ Er denkt nach und sagt: „Vergeben bedeutet, dass Dir etwas angetan wurde und der Andere sich bei Dir entschuldigen muss. Du aber verzichtest darauf und gibst Dein Recht weg.“ „Heißt das etwa, dass ich ihn genauso mag, als ob er mir nichts getan hat?“ fragt ihn sein Sohn. „Ja“ antwortet er. „Und wenn er mich weiter ärgert, wie oft muss ich dann vergeben“ hakt der Junge nachdenklich nach. Da muss der Vater an eine Geschichte von Jesus denken, in der er auf diese Frage sagt: Siebzigmalsiebenmal sollen wir vergeben. Also unbegrenzt. „Das kann man nicht!“ sagt da die alte Frau mit einem Hauch von Schwermut auf dem Gesicht. „Stimmt das?“ fragt der Sohn.
Wie oft habe ich schon nicht vergeben, denkt der Vater. Bilder von Streit und Zank ziehen blitzschnell vor seinem inneren Auge vorbei. „Ja“ antwortet er! Vergeben aus eigener Kraft ist fast unmöglich! Wenn Vergebung geschieht ist das ein Wirken Gottes, dann leuchtet etwas vom Licht der göttlichen Liebe bei uns Menschen auf. Jesus will Kraft zum Vergeben schenken. Kurz vor seiner Himmelfahrt sagt er seinen Freunden zu, dass sie den Heiligen Geist empfangen werden und durch diese Kraft Zeugen der Liebe und der Vergebung sein werden.
„Und was ist, wenn man nicht vergibt?“ fragt der Sohn. „Das ist so, als wenn ich Dir gestern nicht Deinen Splitter herausgezogen hätte. Die Wunde kann nicht heilen und eitert, wird immer schlimmer. Ohne Vergebung wird der Mensch bitter und unzufrieden. Er sieht immer nur das Schlechte und kann sich nicht an der Schönheit erfreuen.“ antwortet sein Vater. „Das ist als ob man nur das Laub und die Arbeit sieht, die ein Baum macht, und sich nicht mehr an seiner Schönheit, seinem Wuchs, seinen Farben und seinem Geruch erfreuen kann“ wirft mit einem Lächeln die alte Frau ein.
Sie verabschieden sich und gehen weiter. Durch die Blätter des Baumes weht leise der Wind.
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