Moment Mal

von Pfr. i.R. Stephan Flade

Wir feiern die 40. Friedensdekade bis zum Bußtag. Corona, Demut lernen, Stolpersteine:  betroffen erinnern wir uns an den 09. November 1938, den Tag des November-Pogroms.

Jüdische Menschen kennen das bittere russische Wort „Pogrom“. Schuldlose Vertreibung im „christlichen Mittelalter“. Auch der judenfeindliche Gründungsmythus des Klosters Heiligengrabe denunziert sie. Aus den Hansestädten Perleberg und Pritzwalk wurden jüdische Menschen, die bereits Jahrhunderte lang mit anderen europäischen Immigranten friedlich zusammen gelebt hatten, ihres Eigentums beraubt und nach Osteuropa (Polen, Litauen und Ukraine) vertrieben. Wie vielerorts und auf der spanischen Halbinsel. Im zaristischen Russland des 19.Jhd. zwangen mörderische Übergriffe und handfeste Unterdrückung die jüdische Bevölkerung zur Auswanderung, meist nach Mitteleuropa und Nordamerika. Leistungsbereite Kulturen starben aus. Die alte Erfahrung saß den Juden im Nacken. Doch wer hätte erwartet, dass im hoch kultivierten Deutschland, im damals fortschrittlichen republikanischen Staat, sich dieser Hass erneut einen mörderischen Weg bahnen würde? Kaum einer. Beschönigend nannte Goebbels 1938 diese Nazi-Mordnacht „Kristallnacht“. Sie war ein brutaler Markstein beim staatlich organisierten Raub an jüdischen Deutschen, an der sinnlosen Zerstörung ihres Eigentums, in der Aberkennung ihrer verbrieften Bürgerrechte, an ihrer Verächtlichmachung, Unterdrückung ihrer Kultur, Verhöhnung ihrer Persönlichkeiten, Zerstörung ihrer Synagogen, bis zum gewaltsamen Massenmord. Innerhalb Deutschlands und außerhalb in Europa wie der Welt rührte sich kaum eine Hand. Fremdenfeindliche Ausgrenzung allenthalben.

Wir standen an den Stolpersteinen für das ermordete Ehepaar Levy in der Wittenberger Bahnstraße. Deren Religion, der jüdische Glaube und die Hebräische Bibel, ist auch Ursprung meines Glaubens. Wittenberge hatte keine Synagoge, aber einen jüdischen Friedhof. Der „gute Ort“, heute im Clara-Zetkin- Park, wurde auch geschändet. Grabsteine umgeworfen und zerstört. Gegen alle jüdischen Menschen richtete sich der Hass der Nationalsozialisten. Nazis waren auch in unserer Familie in Wittenberge in hoher Funktion.  Am 9. November 1938 richtete sich der organisierte Hass gegen vertraute WittenbergerInnen. Fürchterlich. SA-Leute von auswärts (so macht man´s, wenn Hass politisch organisiert wird) drangen in Wohnungen ein, zerstörten das Inventar und warfen es zum Fenster hinaus. Jüdische Geschäfte in der Bahnstraße wurden geplündert, beraubt und sinnlos zerstört. Im Haus meiner Schwiegereltern gab es auch ein jüdisches Textilgeschäft, demoliert. Die Menschen dieser Stadt – schauten weg, sahen hinter den Gardinen die Gewaltexzesse, schwiegen, verdrängten später das Erlebte.

In der Friedensdekade wollen wir nicht verdrängen, sondern uns erinnern. Möge so etwas nie wieder durch Gewalttäter an BürgerInnen unserer Städte geschehen. Keine Gewalt, kein Wegschauen, wenn Menschen verfolgt und gedemütigt werden, keine unterlassene Hilfeleistung wie beim Ertrinkenlassen von gekenterten Menschen auf dem Mittelmeer. Wir stehen für die Menschenrechte und für die Garantie unverletzter Menschenwürde.

Deshalb unsere Erinnerung an den Stolpersteinen. Das Stolpern will uns nachdenklich halten.

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