Moment Mal
von Pfr. i.R. Stephan Flade
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Ungeahnte Umbrüche in unserem Prignitzer Alltag. Mein „Seniorenticket 65 +“ kann ich z.Z. nicht benutzen. Die Kontakteinschränkungen lassen es nicht zu. Unser Auto steht unbenutzt. Manches Ziel bleibt derzeit unbesucht. Leider. Der persönliche Kaffee mit Freunden und Familie muss unterbleiben.
Doch es tun sich andere Möglichkeiten auf. Unerwarteterweise. Anrufe ins In- und Ausland werden ungewohnt lang. Die Freunde in Spanien freuen sich und wir teilen die Not ihrer Ausgangssperre. Kaum vorstellbar für uns: Mittelmeer, Palmen, Segelboote vor Augen hat man Quarantäne. Die Polizei patroulliert und bestraft jeden unerlaubten Gang außer Haus. Mein Skype-Anschluss muss wieder eingerichtet werden, damit ich per Internet bei Proben unseres Kirchenchores mitsinge. Seit unserer Zeit in Indonesien habe ich das Skypen völlig vergessen. Typisch Rentner!
Was geschieht an anregendem Neuen? Wo gibt es bereichernde neue Sichten?
Ein Freundin holt mitten im Telefongespäch ihr Tablet und spielt via youtube einen Debussy-Titel. Unglaublich. Die Tochter weist uns auf kostenlose Abos hin. Z.B. auf „Prantls Blick“, eine sonntägliche Kolumne als anspruchsvolle weltliche Predigt eines zeitkritischen Journalisten.
Die Mediatheken der Rundfunk- und TV-Anstalten bieten vieles zum „Nach-Sehen“. TV-Andachten wie Gottesdienste, auch regionale, schaffen Anregung, geistige Nähe, ja sogar Gemeinschaft. Schönes, Gewohntes bricht weg. Dafür tritt anderes an seine Stelle. Das offene Auge für den Garten. Das sensible Ohr für die Vögel. Der Sinn für Weniger und manche ungewollte Ruhepause.
Die hohe Dramatik der gefährlichen Corona-Krise wird nicht verharmlost. Doch es zeigen sich mutige Ideen und Ansätze für ein gemeinsames Durchstehen der gesellschaftlichen Not. Die Eberswalder Hochschule HNEE entwickelt ein „Logbuch der Veränderungen“. In der christlichen Tradition gibt es dafür den Begriff „Zuversicht“. Eine Perspektive in Gefährdung, die sich über die Beklemmung hinweg eine offene Sicht für nächste Schritte erlaubt. Riskant erwartungsvoll. Das erlebe ich auch im ungewohnt konstruktiven Ringen unserer Politiker_innen mit den Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Fachbereiche. Umsicht. Zuversicht. Weitblick. Vertrauen.
Dabei möchte ich die Tausende Menschen nicht vergessen, die die Welt-Katastrophe erleiden. Dagegen sind unsere Einschränkungen immer noch purer Luxus. Die Helfer_innen und Helfer in Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen, Obdachlose, Prostituierte, Flüchtlinge in Lagern, Bewohner in den Slums der Mega-Städte, Arme und Vergessene in der EU, aller Länder und Kontinente. Sie brauchen unseren finanziellen und aktiven Einsatz in ihrer Not hinter unserem Tellerrand. Sie sind angewiesen auf unsere Mit-Verantwortung. Sie gehören zu unserem „neu Sichten“.
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