Moment mal
von Pfarrerin Brigitte Worch
Maria mit der Wermutspflanze
So heißt der Titel eines Romans des ukrainisch-sowjetischen Schriftstellers Wladimir Jaworiwski. Er erzählt die Geschichte von Maria. Sie ist die Mutter von fünf erwachsenen Kindern und lebt in einem kleinen Dorf nahe des Atomkraftwerkes Tschernobyl. Die typische Pflanze dieser Gegend ist der Wermut - bitteres Kraut. Wermut heißt auf Russisch „Tschernobyl“. Ein Sohn, taubstumm, lebt bei der Mutter im Dorf. Die anderen Kinder mit ihren Familien wohnen in der nicht weit entfernten Stadt, die für die im Atomkraftwerk Arbeitenden entstanden ist. Es ist das Frühjahr 1986. Die glücklichen oder enttäuschenden Lebensgeschichten der Menschen werden durch die Explosion des Reaktors jäh unterbrochen, gezeichnet und zerstört. Der Strahlentod wird schrecklicher Alltag. Alle sind aus ihren Bahnen geworfen und wissen kaum, wie es weiter gehen soll. Das Chaos der Evakuierungen und der Kampf ums Überleben werden nun den Alltag prägen. Das Unheil zieht seine Spuren in die Menschen und Tiere, die Wälder, Äcker und den Fluss. Alle sind sie davon betroffen, auch Maria in ihrem Dorf. Am Ende muss sie müde und von der Last gezeichnet mit ihrer Kuh und ihrem Hund alles verlassen, was bisher ihr Leben und zu Hause war. Was ihr bleibt, hat seinen Wert verloren, denn die Milch der Kuh kann man nicht mehr trinken, sie ist verseucht. Die weinenden Kinder, die sie auf ihrem Weg hört, rühren ihr weises altes Herz und lassen den Lebenswunsch trotz allem in ihr wachsen. Aber wird sie noch genug Kraft haben?
Von dem Unglück in Tschernobyl vor 25 Jahren sind keine Bilder über die Medien in die Welt gegangen. Der Schriftsteller W. Jaworiwski wollte das „bildlose Grauen“ mit seiner Geschichte „sichtbar“ machen. So hat er schon 1986/87 diesen Roman geschrieben. Ins Deutsche übersetzt erschien er 1989 im Verlag der Nation in Berlin in ganz kleiner Auflage.
In diesen Wochen erreichen uns viele Katastrophenbilder aus Japan und auch aus der heutigen Wirklichkeit in und um Tschernobyl. Sie zeigen die bleibende Zerstörung und strahlende Belastung für Menschen und Natur. Wir hören vom Leben der Menschen in Japan, die noch nicht fassen können, mit welchen Konsequenzen ihr Alltag sich verändern wird. Und wir hören aus der Ukraine – 25 Jahre nach der Katastrophe, wie Missbildungen, Krebs und viele andere Erkrankungen das Leben erschweren. Solche Berichte schrecken uns auf, erschüttern uns und bringen eine Diskussion und vielleicht ein Umdenken mit sich, das die Kraft zur Veränderung hat.
Maria, die Mutter im Roman, trägt ein Büschel Wermut bei sich als Zeichen der Bitterkeit des Todes und der Trauer über das schreckliche Geschehen. Sie und alle anderen können es nicht abschütteln.
Maria, die Mutter, die voller Schmerzen ihren toten Sohn Jesus auf dem Schoß trägt, ist ein altes Bild christlicher Kunst seit dem 14. Jahrhundert. Pieta wird diese Darstellung genannt nach dem italienischen Wort für Frömmigkeit. Besonders am Karfreitag, dem Tag an dem Christen an die Kreuzigung und den Tod Jesu denken, hat dieses Bild seinen Gedenkplatz gehabt. Aber im Laufe der Jahrhunderte ist es vom Andachtsbild, sich in das Leiden Jesu zu versenken, immer mehr ein Bild für sehr viel menschliches Leid geworden, auf das Trauernde ihren Blick gerichtet haben und Trost erfuhren. Denn die Trauer braucht einen Ort, ein Bild, ein Gedenken, das dem Wert und der Würde des Lebens entspricht, gerade weil sie so oft missachtet werden. In der trauernden Maria mit dem toten Jesus fühlen Frauen und Mütter den Schmerz des eigenen Lebens aufgehoben. Zu Zeiten der Pest im 15.und 16. Jahrhundert war die Pieta weit verbreitet. Im Magdeburger und Naumburger Dom finden wir solche Darstellungen (an vielen anderen Orten auch). Im 20. Jahrhundert hat Käthe Kollwitz das Motiv verwendet und damit den verzweifelten Müttern und ihren an Hunger und Krankheiten gestorbenen Kindern ein Denkmal gesetzt. Und der Bildhauer Will Lammert schaffte in den 50 ziger Jahren ebenfalls nach diesem Motiv ein Mahnmal für die Frauen des KZ Ravensbrück.
Für die Betroffenen sind Bedrohung, Unrecht und Leid nicht mehr rückgängig zu machen. Aber das Gewesene darf nicht vergessen werden, es braucht die Erinnerung und das Gedenken. Darum wollen wir auch an die Katastrophe in Tschernobyl vor 25 Jahren mit einem Gottesdienst denken (am 26.04. um 19.00 Uhr im Gemeindehaus). Für unser eigenes Leben und die Zukunft aber brauchen wir auch Modelle und Lebensentwürfe, die eine solche unnötige Gefährdung nicht mehr zulassen. Wir brauchen Aufmerksamkeit für das, was geschieht, weil die Wirkung noch anhält, lange über unser eigenes Leben hinaus.
Aber Maria – Frau und Mutter – mit dem toten Sohn und der Wermutspflanze, klagen an, trösten und ermutigen zu erneuertem Denken.
Brigitte Worch
Von dem Unglück in Tschernobyl vor 25 Jahren sind keine Bilder über die Medien in die Welt gegangen. Der Schriftsteller W. Jaworiwski wollte das „bildlose Grauen“ mit seiner Geschichte „sichtbar“ machen. So hat er schon 1986/87 diesen Roman geschrieben. Ins Deutsche übersetzt erschien er 1989 im Verlag der Nation in Berlin in ganz kleiner Auflage.
In diesen Wochen erreichen uns viele Katastrophenbilder aus Japan und auch aus der heutigen Wirklichkeit in und um Tschernobyl. Sie zeigen die bleibende Zerstörung und strahlende Belastung für Menschen und Natur. Wir hören vom Leben der Menschen in Japan, die noch nicht fassen können, mit welchen Konsequenzen ihr Alltag sich verändern wird. Und wir hören aus der Ukraine – 25 Jahre nach der Katastrophe, wie Missbildungen, Krebs und viele andere Erkrankungen das Leben erschweren. Solche Berichte schrecken uns auf, erschüttern uns und bringen eine Diskussion und vielleicht ein Umdenken mit sich, das die Kraft zur Veränderung hat.
Maria, die Mutter im Roman, trägt ein Büschel Wermut bei sich als Zeichen der Bitterkeit des Todes und der Trauer über das schreckliche Geschehen. Sie und alle anderen können es nicht abschütteln.
Maria, die Mutter, die voller Schmerzen ihren toten Sohn Jesus auf dem Schoß trägt, ist ein altes Bild christlicher Kunst seit dem 14. Jahrhundert. Pieta wird diese Darstellung genannt nach dem italienischen Wort für Frömmigkeit. Besonders am Karfreitag, dem Tag an dem Christen an die Kreuzigung und den Tod Jesu denken, hat dieses Bild seinen Gedenkplatz gehabt. Aber im Laufe der Jahrhunderte ist es vom Andachtsbild, sich in das Leiden Jesu zu versenken, immer mehr ein Bild für sehr viel menschliches Leid geworden, auf das Trauernde ihren Blick gerichtet haben und Trost erfuhren. Denn die Trauer braucht einen Ort, ein Bild, ein Gedenken, das dem Wert und der Würde des Lebens entspricht, gerade weil sie so oft missachtet werden. In der trauernden Maria mit dem toten Jesus fühlen Frauen und Mütter den Schmerz des eigenen Lebens aufgehoben. Zu Zeiten der Pest im 15.und 16. Jahrhundert war die Pieta weit verbreitet. Im Magdeburger und Naumburger Dom finden wir solche Darstellungen (an vielen anderen Orten auch). Im 20. Jahrhundert hat Käthe Kollwitz das Motiv verwendet und damit den verzweifelten Müttern und ihren an Hunger und Krankheiten gestorbenen Kindern ein Denkmal gesetzt. Und der Bildhauer Will Lammert schaffte in den 50 ziger Jahren ebenfalls nach diesem Motiv ein Mahnmal für die Frauen des KZ Ravensbrück.
Für die Betroffenen sind Bedrohung, Unrecht und Leid nicht mehr rückgängig zu machen. Aber das Gewesene darf nicht vergessen werden, es braucht die Erinnerung und das Gedenken. Darum wollen wir auch an die Katastrophe in Tschernobyl vor 25 Jahren mit einem Gottesdienst denken (am 26.04. um 19.00 Uhr im Gemeindehaus). Für unser eigenes Leben und die Zukunft aber brauchen wir auch Modelle und Lebensentwürfe, die eine solche unnötige Gefährdung nicht mehr zulassen. Wir brauchen Aufmerksamkeit für das, was geschieht, weil die Wirkung noch anhält, lange über unser eigenes Leben hinaus.
Aber Maria – Frau und Mutter – mit dem toten Sohn und der Wermutspflanze, klagen an, trösten und ermutigen zu erneuertem Denken.
Brigitte Worch
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