Moment Mal
von Pfrn. Verena Mittermaier
Aus meinem Bürofenster schaue ich auf ein Herbstidyll. Von Zeit zu Zeit segelt das gelbe Blatt einer Birke auf die Wiese. Zwischen den Walnüssen des Nebenbaumes kommt es am Boden auf und bleibt liegen. Weiter hinten sehe ich rötlich, braun oder goldgelb gefärbtes Laub. Rechts begrenzt die alte Backsteinmauer vom Nachbargrundstück das Blickfeld. Sie hat schon oft den Wechsel der Jahreszeiten erlebt. Das Haus, zu dem sie gehörte, ist bereits verfallen; davon erzählt ein langer Riss im verbliebenen Mauerwerk. Hochbetagt ist sie, diese Mauer. Und so schön die alten rötlichen Backsteine mit ihrem urigen Efeubewuchs im Abendlicht auch leuchten, in absehbarer Zeit wird es der Mauer ergehen wie den Blättern der Birke, des Ahorns oder des Walnussbaums; sie wird fallen.
Wenn der Herbst beginnt, erfasst mich Unruhe, sagte eine Kollegin neulich.
Wovon künden die welkenden und fallenden Blätter? In all ihrer Farbenpracht markieren sie doch das Ende des Sommers. Die Zeit des vollen Lebens, die Zeit der hellen Tage und lauen Abende, einmal wird sie zu Ende sein – kaum zu glauben in diesem Jahr.
Irgendwann bleiben die Bäume kahl zurück. Was blühte, wird welken. Was fest gemauert stand, wird bröckeln, früher oder später. Und dann?
Im alten Gebetbuch der Psalmen in der Bibel, gleich im ersten Psalm, findet sich ein erstaunliches Gegenbild. Ein Mensch wird hier verglichen mit einem Baum, dessen Blätter nicht welken! Da geht etwas weiter. Da bleibt einer in Saft und Kraft. Grün und frisch wie ein gut gewässerter, dicht belaubter Baum. Der trägt köstliche Früchte. Und der wird nicht welken, nicht kahl zurückbleiben oder ganz vergehen. Den kann kein Herbststurm schrecken…
„Glücklich der Mensch, der Freude hat an den Weisungen Gottes. Er gleicht einem Baum, gepflanzt an strömendem Wasser. Früchte trägt er zu seiner Zeit und seine Blätter welken nicht.“
Ein Geheimtipp für die ewige Jugend? Und wenn ja: wer will das, Hand aufs Herz? Für den Beter des Psalms geht es wohl eher um einen anderen Geheimtipp: um ein Leben mit Gottvertrauen. Um die Freude, gute Worte zu hören, die Orientierung geben. Um die Verbundenheit mit dem Schöpfer. Die endet nämlich wirklich nicht. Nicht im Herbst, nicht am Lebensabend, nicht beim letzten Atemzug.
Was für eine schöne Aussicht, denke ich und schaue auf das kleine gelbe Blatt, das vor meinem Fenster lautlos zu Boden fällt.
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