Moment Mal

von Superintendentin Eva-Maria Menard

Halt auf freier Strecke

Der Zug stoppt. „Ach, nicht schon wieder!“ seufze ich. Morgens fuhr der Zug nicht pünktlich und auch jetzt haben wir wegen „technischer Störung“ schon 10 min Verspätung. Dann die Ansage: „Sehr geehrte Reisende, wegen eines Notfalleinsatzes endet der Zug in Glöwen. Wir bitten alle Reisenden auszusteigen. Vielen Dank für ihr Verständnis.“

150 ratlose Menschen steigen zögernd aus und stehen auf dem zugigen Bahnsteig. Was nun? Die Zugbegleiterin zuckt hilflos mit den Schultern und meint, dass wohl versucht werde, einen Schienenersatzverkehr einzurichten. Das könne dauern. In Glöwen fahren kein Taxi und kein Bus, jedenfalls nicht in meine Richtung.

„Kommen Sie, ich habe eine Mitfahrgelegenheit.“ spricht eine fremde Frau mich an.

Erleichtert setze ich mich ins Auto. Der Autofahrer möchte eigentlich nach Havelberg, aber nun wird er uns nach Bad Wilsnack fahren, da steht mein Auto, von dort werde ich die anderen Mitfahrer nach Wittenberge bringen und dann nach Perleberg weiterfahren.

Die Stimmung im vollbesetzten Auto schwankt zwischen Dankbarkeit über die gegenseitige Unterstützung und Bedrückung. Was wohl geschehen ist?

Am Abend dann - endlich zu Hause - dringt die Nachricht erst richtig zu mir durch. Ein Mensch hat sein Leben verloren. Sich vielleicht selbst das Leben genommen. Was ist in ihm wohl vorgegangen, dass er keinen anderen Weg mehr für sich sah? Wem wird diese Nachricht jetzt überbracht werden müssen? Partner, Eltern, Geschwistern? Vielleicht betrifft es eine Familie, die ich kenne.

Ich denke an den Zugführer, der keine Chance zum rechtzeitigen Bremsen hatte, an die Einsatzkräfte - junge Feuerwehrleute und Polizisten -,  die die Unfallstelle sicherten. Wie werden sie mit den schockierenden Bildern umgehen? Steht ihnen einer unserer Notfallseelsorger zur Seite, der für sie da ist und ihnen zuhört?

Die Gedanken kreisen. Ich gehe in die Kirche, entzünde eine Kerze und spreche ein Gebet.

Für den Toten, für die Angehörigen, für mich.
Gott, ein Mensch ist gestorben.
Ich stehe fassungslos vor seinem Tod.
Viele Menschen unter uns geraten in Verzweiflung,
und ich merke es nicht. Öffne meine Augen.
Gott, für den Gestorbenen bete ich:
Du weißt, was ihm gefehlt, was ihn getrieben hat; lass ihn Ruhe bei Dir finden.
Steh den Angehörigen bei, denen dieser Tod das Leben durcheinander wirft,
die sich mit Fragen quälen.
Stell ihnen Menschen an die Seite, die dem Schrecken standhalten, die mit ihnen weinen und sie trösten können.
Gott, ich bitte Dich für den Zugführer und die Helfer an der Unfallstelle.
Dass die schrecklichen Bilder nicht Macht über sie und ihr Leben gewinnen.
Barmherziger Gott, ich vertraue darauf, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges uns trennen kann von deiner Liebe. Amen

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