Moment Mal
von Pfarrerin Anna Trapp
Kintsugi heißt übersetzt so viel wie „Goldverbindung“. Es bezeichnet eine traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik. Dabei werden die Bruchstücke mit Lack geklebt, fehlende Scherben werden mit einer in mehreren Schichten aufgetragenen Kittmasse ergänzt, in die feinstes Pulvergold eingestreut wird, sodass charakteristischen Dekorationseffekte entstehen. Kintsugi geht zurück auf das ästhetisches Prinzip Wabi Sabi. Die Einfachheit und die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit stehen im Zentrum dieser Anschauung. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Goldreparatur, die den Makel hervorhebt.
In meiner westlichen Kulturgeschichte ist ein anderes Konzept vorherrschend. Mein Auge sucht unbewusst Perfektion und Symmetrie. Ich erinnere mich noch genau, wie ich das erste Mal vor der Kirche St. Nikolai in Bad Wilsnack stand und den Bau als unproportional und unvollkommen empfand. Tatsächlich hat dieser Eindruck nicht getrogen, die Kirche ist ja tatsächlich unvollendet geblieben. Mein Unterbewusstsein hat das intuitiv erfasst. So ergeht es mir und ich schätze auch vielen anderen in den unterschiedlichsten Situationen: Befremdet vom Unvollkommenen. Ich bin aufgewachsen in einer Gesellschaft in der alles und jede*r perfekt sein soll. Bestnoten, Topmodels, Leistungsdruck, Schönheit, Gesundheit, Makellosigkeit sind erstrebte Ziele.
Brüche passen da nicht gut hinein. Wir haben nicht gelernt mit ihnen umzugehen. Darum fällt es auch schwer darüber zu reden. Wer redet schon gern darüber, wie die eigene Firma pleiteging und man Mitarbeitende nach Jahren guter Zusammenarbeit auf die Straße setzen musste. Wer offenbart frei, dass man mit der Pflegesituation des geliebten Partners überfordert ist und man sich seinen Lebensabend anders vorgestellt hat. Wem vertraut man an, dass der Druck einfach zu groß und deshalb die Speiseröhre hin ist vom vielen Erbrechen.
Die Kunst des Kintsugi sieht einen Bruch nicht als das Scheitern eines Objektes, wie z.B. einer Teeschale an, sondern entdeckt im Bruch einen Augenblick in dessen Geschichte. Durch die Reparatur des Gegenstands durch den Goldkitt verändert sich das Objekt. Die Eigentliche Schönheit und Individualität einer Sache wird erst an ihren Brüchen offenbar.
Wie viel Heilung steckt auch für meine Seelenbruchstücke, mein Scheitern und Sterben in diesem Bild. Heil werden bedeutet Transformation, Veränderung. Du bist nicht mehr dieselbe, aber durch deine auch schmerzlichen Erfahrungen wirst du nicht unvollkommener, sondern lässt ganz im Gegenteil zu, dass dein ganzes Wesen wunderschön erkennbar wird, wo Gott mit Goldkitt Hand an deine Lebenswunden legt.
Die Karwoche mit ihrer Stille, den Passionsmusiken und Kreuzesbetrachtung stellt den einen gebrochenen Menschen in den Blickpunkt an dem Gott seinen Heilswillen für uns alle offenbart. Jesus von Nazareth, Gottes Kind, erträgt Spott und Folter, Verrat und Einsamkeit. Ein unvollkommener Anblick, der schwer zu ertragen ist und der so gar nicht zum Begriff Gott passt. Gott nimmt sein Scheitern, seinen Schmerz, sein Gebrochensein an und stirbt. Tod ist das Zerspringen in tausend Scherben, das Ende. Aber dabei bleibt es nicht. Karfreitag kommt vor Ostern. Dazwischen liegt Gottes Heilsgeheimnis. Und genau in dieser geheimnisvollen Stille liegt der Goldkitt auch meines Lebens verborgen.
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