Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Zuwendung
Nun steht er vor mir, endlich! Seit ich ein Kind war, hat sich die Hoffnung auf eine Begegnung mit ihm in mir festgesetzt. Ich bin weit gereist, um ihm gegenübertreten zu können, bis nach Kopenhagen in Dänemark. Und ich bin bewegt davon, wie groß er so vor mir steht, auf mich herabsieht. Fast fühle ich mich verloren. Aber dann auch wieder getröstet. Wahrgenommen, aufgerufen, eingeladen, willkommen geheißen vom Thorvaldsen Christus. Dem Auferstandenen, der alle zu sich ruft, die Einbußen im Leben erleiden, die sich bedrückt fühlen und schwach, die krank sind oder unter einem schweren Schicksal leiden. „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“, ist sein Heilandsruf aus dem Matthäus Evangelium.
Und in meisterhafter Weise hat der berühmte dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen dieser Einladung Ausdruck verliehen in seinem Meisterwerk. In schneeweißen Marmor gehauen ist es keine Siegespose des Auferstandenen, sondern eine fast demütige Haltung mit gesenktem Kopf und ausgebreiteten Armen, die sich dem Menschen zuzuwenden scheint. Man muss diesem Christus schon unter die Augen treten, um zu erkennen, dass seine Zuwendung nicht nur der ganzen Menschheit gilt, sondern dem Einzelnen.
Seitdem Bertel Thorvaldsen diese Statue für die Frauenkirche in Kopenhagen 1839 geschaffen hat, wurde sie durch Bilder und Nachbildungen weltberühmt. Ich besitze eine etwa zwanzig Zentimeter große Tischstatue, die den Thorvaldsen – Christus nachempfindet. Seinerzeit wurde seine Darstellung als neu empfunden und ging in die Kunstgeschichte als der ‚segnende Christus‘ ein.
Dabei zeigt er weniger eine segnende, als vielmehr eine einladende Geste. Die Hände an den leicht angewinkelten Armen sind mit den Handflächen dem Betrachter zugewandt – friedlich, offen, herzlich. Die Nägelmale sind angedeutet. Das einer antiken Toga ähnliche Gewand ist über der rechten Schulter offen und gibt unter der rechten Brust die Wunde vom Lanzenstich des römischen Soldaten frei. Das vom Vollbart und dem lang auf die Schultern fließenden Haar umrahmte Gesicht ist ebenmäßig schön, der Blick etwas nach innen gekehrt. Das goldene Halbrund des Hintergrunds verstärkt den Lichteindruck.
Mir kommt eine Geschichte in Erinnerung, die ich von einer alten Frau erzählt bekommen habe. „Es war in den letzten Kriegstagen. Wir lebten in der etwas außerhalb der Stadt gelegenen Gärtnerei. Die russischen Truppen umgingen die Stadt und kamen von zwei Seiten auf unser Gehöft zu. Dabei beschossen sie sich gegenseitig, bevor sie erkannten, dass es die eigenen Truppen waren. Unser Haus wurde getroffen und schwer beschädigt. Aber es war ein Wunder geschehen: der Thorvaldsen Christus, der in der Stube auf einer Wandkonsole in der Zimmerecke stand, etwa einen Meter groß, war unversehrt. Zwar mit dem Staub aus Schutt und Trümmern bedeckt, aber nicht die kleinste Beschädigung war daran zu sehen. Da wusste ich, Christus hat uns beschützt, denn alle waren am Leben.“
Meine Zwiesprache mit diesem Christus ist noch nicht beendet. Sie setzt sich fort, als ich schon längst die Kirche wieder verlassen habe. Und ich kehre ermutigt von dieser Christus Statue in meinen Dienst als Pfarrer zurück.
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