Wort zur Woche
von Dr. Elisabeth Hackstein
Zur Barmherzigkeit gefordert
Wenn wir eine allgemeingültige Lebenserfahrung zum Ausdruck bringen wollen, nutzen wir gerne Sprichwörter. Und so manches stammt aus der Bibel, z. B. aus dem Buch der Sprüche: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ Oder: „Hochmut kommt vor dem Fall.“
Auch aus den Evangelien ziehen wir Redewendungen und nennen z. B. einen hilfsbereiten, selbstlosen Menschen einen barmherzigen Samariter. Da erzählt Jesus seinen Zuhörern (Lukas Kap. 10): Ein Mann ist auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho und fällt unter die Räuber. Sie schlagen ihn halbtot und rauben ihn aus. Menschen kommen vorbei, sehen ihn in seinem Elend und gehen weiter. Hilfe bekommt der Überfallene erst von einem Mann aus Samaria, von dem Lukas sagt: Der Verletzte jammerte ihn; er versorgte seine Wunden und brachte ihn in Sicherheit. Und seine Zuhörer entlässt Jesus mit den Worten: „Geht hin und tut desgleichen!“
Diese berührende Geschichte ist Jesu Antwort auf die Frage: Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben erbe? Die Frage beschäftigt uns Christen/innen auch heute. Wie muss ich mein Leben leben, dass es vor Gott bestehen kann? Jesus gibt uns mit dieser Geschichte eine überraschende Antwort. Er spricht weder vom Beten noch vom Einhalten religiöser Gebote. Er schaut auf unseren Umgang mit dem Nächsten und auf die leibliche Seite unserer Existenz.
Die Geschichte ist heute schon fast alltäglich. Da verlieren unzählige Menschen jeden Tag an vielen Orten dieser Erde alles, was sie haben. Die Kriegsflüchtlinge, die zu uns kommen, wissen, was es heißt, beraubt zu werden. Wenn sie sich zu Hunderten in einem winzigen Boot drängen, dann ist ihre Verzweiflung so groß, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen für einen Funken Hoffnung. Und uns, die wir in der sicheren Distanz im Fernsehen das Elend sehen, sind wir barmherzig? Oder schauen wir weg, weil es zu belastend ist?
Natürlich bedrücken uns die Bilder aus den Krisen- und Kriegsgebieten, weil sie uns mit der eigenen Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit konfrontieren. Aber wegschauen hilft nicht, weil mit den Flüchtlingen das Elend der Kriegsopfer zu uns kommt und uns als barmherzige, mitfühlende Menschen fordert, die das Elend der Flüchtlinge jammert und die sie mit offenen Herzen aufnehmen.
Barmherzige Samariter finden sich auch heute. Ich denke an die vielen, die sich bei Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ in den Kriegsgebieten dieser Welt einsetzen, um Menschenleben zu retten. Ich denke an Papst Franziskus, der die Flüchtlinge auf Lampedusa besucht hat. Aber ich denke auch an die vielen Menschen hier in Deutschland, die sich der Flüchtlinge annehmen, sie willkommen heißen und beim Start in das neue Leben unterstützen.
Von dem Samariter sagt uns Jesus, dass er sich des Ausgeraubten erbarmt und mit ihm fühlt. Er lässt sich von Barmherzigkeit leiten. Und wenn er von Barmherzigkeit spricht, dann sagt er, dass das Mitgefühl des Samariters in die Tiefe geht. Die Geschichte geht tief, weil Jesus damit von Gottes Erbarmen erzählt; weil sich Jesus uns Menschen, unserer seelischen Not und leiblichen Bedürftigkeit im Namen Gottes zugewandt hat. Und deshalb erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter auch vom göttlichen Erbarmen, das uns in unseren Mitmenschen begegnet und das wir unseren Mitmenschen schenken können, besonders denen, die alles verloren haben: den Kriegsflüchtlingen.
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