Moment mal
von Pfarrer Sacha Sommershof
Geschichtlicher Glücksfall
„Niemals hätte ich gedacht, dass es so weit kommen würde. Doch am Ende war es unerträglich und auch zu gefährlich, um noch länger zu bleiben. Ich war Professor an der Universität, die Studenten mochten mich und meine Forschung war weltweit anerkannt. Mit mir wurden etliche Kollegen unter Druck gesetzt, nicht weil wir aufbegehrten, sondern weil wir dem Regime an sich verdächtig erschienen. Irgendwann nahmen die Repressalien zu, nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Alltag. Der Krieg, der erst drohte und dann mit unvermittelter Heftigkeit ins Land schlug, brauchte ein Ventil – und das waren wir. Die Menschen hassten uns, die Regierung verfolgte uns und so blieb nur die Flucht. Wir versuchten, alles zu Geld zu machen, was wir besaßen. Die Perspektive jemals wieder zurückkehren zu können, bestand nicht. Die Lage war so gefährlich, dass wir uns nur mit gefälschten Papieren trauten, das Land zu verlassen. Auf abenteuerlichen Wegen gelangten wir an neue Pässe, Schleuser organisierten Fluchtrouten, immer darauf bedacht, nicht selbst in Gefahr zu geraten. Am Ende hatten wir Glück, anders als viele andere, die mit ihrem Leben bezahlten. Im Nachhinein waren es wohl Tausende, die unser Land verließen und auf die Gastfreundschaft oder zumindest auf die Duldung anderer Länder angewiesen waren.“
In diesen Tagen und Wochen hören und lesen wir vor allem von Flüchtlingszahlen, weniger von einzelnen Schicksalen. Die Schilderung des Professors, die Sie eben gelesen haben, beleuchtet ein wenig von der Not, die ihn und viele andere mit ihm zur Flucht getrieben hatten. Er floh aus einem Land, dessen Regime sich nur durch politische Repressalien an der Macht halten konnte. Vielen gelang die rechtzeitige Flucht nicht, am Ende schätzt man die Zahl derer, die fliehen konnten auf 500 000. Ob man sich vorstellen kann, dass dieses Land, das Hunderttausende aus dem Land trieb, eines Tages wieder solches Vertrauen genösse, dass Menschen es als Ziel ihrer Flucht wählten? Und wie müsste es reagieren?
Im Alten Testament steht dazu ein guter Rat, der übertragen etwa so lautet: „Wenn ein Flüchtling zu dir kommt, erinnere dich daran, dass auch du eine Flüchtlingsgeschichte hast. Gib ihm ein Zuhause, so wie auch dir ein Zuhause gegeben wurde, als du ein Flüchtling warst.“
Das Land des Professors ist in der Tat das Ziel großer Flüchtlingsströme geworden. Hatte es zu seiner Zeit noch Angst und Schrecken in der Welt verbreitet, vertrauen dem Land jetzt viele Menschen ihr Leben an.
Wie Sie sich sicher schon gedacht haben, handelt es sich bei dem Land um das unsere. Vor gut 80 Jahren waren viele Menschen gezwungen, Deutschland zu verlassen. Dass sich heute so viele Menschen bei uns sicher fühlen, ist ein geschichtlicher Glücksfall. Bei allen Problemen, die zu lösen sind, bei allen Bedenken, die viele sicher auch zu Recht haben, hilft es von Zeit zu Zeit sich auf den Rat des Alten Testaments zu besinnen: Erinnere dich deiner eigenen Flüchtlingsgeschichte.
Einen Kommentar schreiben