Die Angst vor dem Fegefeuer trieb die Pilger an
von Claudia Bihler
Rund 120 Kilometer Fußweg liegt hinter den vier Berliner Pilgerinnen, die auf den Bänken der Wilsnacker Wunderblutkirche noch einmal Rückschau halten. Einen Tag wollen sie noch bleiben und die Annehmlichkeiten der Kurstadt nutzen: „Die letzte Etappe war verregnet und asphaltlastig“, sagen die vier, die sich vor allem aus einem Grund auf den Pilgerpfad gemacht haben: Sie wollten das Gemeinschaftsgefühl.
„Das ist heute für viele Menschen ein Grund, sich nach Bad Wilsnack auf den Weg zu machen“, sagt Daniel Feldmann, Pfarrer der evangelischen Gemeinde: „Manche wandern, weil sie nach einem schweren Erlebnis, einer Trennung, einer Krankheit wieder zu sich selbst finden wollen. Das ist bei den Einträgen in den Gästebücher sehr häufig zu lesen.“
Ähnliche und andere Beweggründe hatten die mittelalterlichen Pilger. „Die Menschen hatten damals eine ungeheure Angst vor dem Fegefeuer“, begründet Feldmann. Erlösung erwarteten sie sich in Wilsnack, „das damals der drittgrößte Pilgerort nach Rom und Jerusalem war.“ 100 000 Pilger im Jahr strömten in die Stadt des Bistums Havelberg, manche wegen eines Gebrechens, andere deshalb, weil ihnen wegen eines Verbrechens eine Zwangswallfahrt auferlegt worden war. Der Prignitzer Künstler Bernd Streiter hat für die Ausstellung „Wunder,Wallfahrt, Widersacher“ Skulpturen der Pilger geschaffen: Einer läuft in schweren Ketten. Vor allem in den Niederlanden wurden gern Pilgerstrafen verhängt.
Herzöge und Könige pilgerten oft mehrfach an den Ort des Wunderblutes. Die erste Hochadlige war Elisabeth von Pommern, Ehefrau Karl IV., deren Kräfte sprichwörtlich waren: Mit blanker Hand verbog sie Schwerter oder zerbrach Hufeisen – bis sie schwer erkrankte. Nach einem Gelöbnis ihrer Hofdamen für ihre Gesundung pilgerte sie nach Wilsnack. Mancher betätigte sich auch als Berufspilger, wie der Pfarrer erzählt: „Obdachlose nutzten die kostenlose Infrastruktur entlang der Pilgerroute.“ Ab 1417 sind sogar Massenwallfahrten – das Wilsnacklaufen – bekannt, bei denen mittellose Kinder und Jugendliche sich völlig unvorbereitet auf den Weg zum Wunderblut machten.
Ob die Legende um das Wunderblut Anlass zur Wallfahrt oder einfach nur ein schlau eingefädelter, vom brandenburgischen Hof protegierter Trick zugunsten von Kirchbau und Wirtschaftsförderung im mittelalterlichen Bistum Havelberg war, darüber stritten bereits vor der Reformation die Kirchengelehrten. Der Legende nach jedenfalls hatte im Jahr 1383 Ritter Heinrich von Bülow die Kirche in Brand gesetzt, als die Wilsnacker ein Kirchenfest in Havelberg besuchten. Auf den Ruinen seiner damals kleinen Dorfkirche will der Wilsnacker Pfarrer Cabbuez einige Tage später drei blutbefleckte Hostien gefunden haben, die vom Feuer unversehrt geblieben waren. Engelhafte Stimmen hätten ihn geführt. Den Neubau der Kirche – deren Fundamente noch zu sehen sind – genehmigte das Havelberger Bistum. 15 Jahre sollte der erste Bau dauern – auch, weil Havelberg immer wieder Geld für den Dom abzweigte. Cabbuez verließ Wilsnack bald; unter seinem Nachfolger Bielefeld erst wurde der Bau beendet.
Den Wallfahrern wurde von Bischöfen und der römischen Kurie Ablass versprochen – ein Ablassbrief ist in Wilsnack noch zu sehen. Spenden waren willkommen. So konnten sich Pilger auf der Sündenwaage gegen Waren aufwiegen lassen, um sich einem himmlischen Patron zu unterstellen. Nur von Weitem konnten die Pilger einen Blick in den Schrein werfen, in dem die drei Hostien aufbewahrt wurden. Der ist heute noch in seiner gesamten Pracht erhalten. Anders als die Hostien. Die verbrannte nämlich Jahre nach der Reformation der lutherische Geistliche Johann Ellefeld am 19. Mai 1552 in einer Nacht-und- Nebel-Aktion. Der Pritzwalker Geistliche brach die Türen zur Kirche auf, zerstörte die Monstranz und warf die Hostien ins Feuer.
„Die Menschen pilgerten noch eine Weile nach Wilsnack, aber das hörte bald auf“, sagt Pfarrer Feldmann. Der Wunderblutkirche, deren großflächige Erweiterung unbeendigt blieb, fehlt so auch bis heute der Turm. „Die Fundamente wurden bereits bis zum heutigen Rathaus gesetzt“, sagt der Pfarrer: „Die Kirche sollte eigentlich drei mal so groß werden.“ Wilsnack selbst hatte eine für damalige Zeit erhebliche Zahl von Schankwirtschaften mit angeschlossenen Herbergen und ein lebhaftes städtisches Leben. Feldmann vielsagend: „Wilsnack erhielt ja auch das Stadtrecht und damit das Recht, die Todesstrafe zu verhängen.“
Was von der mittelalterlichen Wallfahrt bleibt? Feldmann: „Ich denke ja immer, dass diese Stadt irgendwie gesegnet ist. Erst die Wallfahrt. Und als es damit vorbei war, wurde hier das wertvolle Moor entdeckt, das heute den Kurbetrieb ermöglicht.“
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