Moment Mal

von Pfr. i.R. Stephan Flade

Dankbar in schweren Krisen

Michaelistag 1872: Mägde und Knechte in Dörfern; Dienstboten, Handwerksgesellen, Ammen, Mamselln, Kutscher und Gärtner in Bürger- und Adelshäusern. Es wurde fristlos gelöst. Gehorsam war Maßstab für Urteile in Dienstbüchern. Entgelte wurden bezahlt oder verweigert. Wer Glück hatte, bekam erneut Arbeit.

Es klingt beschaulich, doch es ging knallhart ums Überleben (in der eiskalten Unsicherheit des kommenden Winterhalbjahres). Familie gründen konnte nur, wer das Geld zusammengekratzt hatte. Keine soziale Absicherung, keine Bleibe. Ein Schlafplatz oder gar eine Stube war ohne Arbeit unerschwinglich. Kein Hartz IV, geschweige denn ein Arbeitslosengeld. Die Verschläge bei den Herrschaften – Stuben möchte ich die Abstellkammern für das Hauspersonal nicht nennen - waren ofenlos und unbeheizt. Teure Kohle- oder Holzöfen gab es nur in Küchen und Räumen der Herrschaften. Auch dort: Gute Stuben und Säle wurden nur zu Festen geheizt. Fallobst wurde schnell verwertet. Brauchwasser wurde aus Flüssen geholt, in Städten bereits aus öffentlichen Brunnen. Müll und Kot flog auf die Straße. Von Bädern und Toiletten keine Spur.

Das lese ich in den Erinnerungen meiner Vorfahren im Vogtland. Warum das 2022 im „Prignitzer“? In einer gesicherten und auskömmlichen Welt. Ein Auto gehört fast zum Standard. Die meisten (auch allein Lebende) haben eine warme Wohnung mit WC, machen Ferien. Lebensmittel gibt es in Fülle. Medizinische Versorgung und Schulen für alle. Für Worte wie Entbehrung, Hunger, Krieg haben wir keine reale Erfahrung. Gottlob. 6-Tage-Arbeitswoche, Mietskasernen und freitags für die kinderreiche Großfamilie einen Hering – alles Geschichte. Massen-Krankheiten wie Schwindsucht (Tbc) haben keine tödlichen Folgen mehr.

Anders als früher können wir gut versorgt Erntedank feiern. In einem wieder geeinten Deutschland, das trotz zweier verschuldeter Kriege im Frieden inmitten Europas liegt. Eine funktionierende Demokratie garantiert freie Wahlen – in allen jetzigen Konflikten und Krisen. Daneben ich sehe Menschen, die in Kriegen leiden, deren Hab und Gut in Fluten versinkt, die hungern und um ihr Leben ringen, deren Tränen und Leid ich übersehe.

Für Erntedank lese ich in der Bibel: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier, denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. (Lk. 12, 15). Es macht mich betroffen. Ich wünsche uns eine Dankbarkeit, die schwere Krisen und menschliche Nöte mutig angeht.

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